Darum geht es im Libor-Skandal
20minuten.ch (4. Juli 2012) – Gleich drei Topshots der englischen Grossbank Barclays stürzen über die Manipulationen beim Libor-Zins. Es ist der Anfang der grössten Umwälzung im Global-Banking.
Das hat es in der ganzen Finanzkrise noch nie gegeben. Innert 24 Stunden landen die drei obersten Köpfe eines der grössten und wichtigsten Finanzhäuser auf der Strasse. Der Präsident, der CEO und der oberste Stabschef der englischen Barclays Bank scheitern am Libor-Skandal.
Wer es bisher nicht gewusst hatte, der muss nun erkennen: Der Fall der getürkten Zinssätze mit Auswirkungen auf die unterschiedlichsten Finanz-Produkte ist der Super-GAU für die Industrie. Einen grösseren Crash kann man sich kaum vorstellen.
Libor je nach Gusto
In England hat Libor-Gate zu einem radikalen Wetterumschlag geführt. Waren die Politiker bisher nur rhetorisch hart mit den obersten Bankern, machen sie nun plötzlich Ernst mit Strafen und Verbannung.
Für Barclays-CEO Bob Diamond wurde die Lage aussichtslos. Dass er Amerikaner ist, hat ihm im Moment der höchsten Not auch nicht geholfen. Schon vor dem Libor-Fall galt Diamond als «meistgehasster Banker der City», des Finanzdistrikts von London.
Betroffen vom Libor-Meltdown sind viele Grossbanken von Rang und Namen:
die US-Citibank, die englische Royal Bank of Scotland, die kanadische Royal Bank of Canada, die Schweizer UBS. Auch die CS taucht auf dem Radar auf, allerdings weniger prominent. Weil sich die UBS selbst anzeigte und von Beginn weg kooperierte, geniesst sie einen kleinen Schutz.
Anschein von Normalität
Allein das betroffene Volumen ist gigantisch. Kredite und Investments über rund 350 Billionen Dollar sind vom Libor abhängig. Das ist eine Zahl mit 12 Nullen. Libor heisst ausgeschrieben London Interbank Offered Rate. Seit Jahrzehnten melden die wichtigsten internationalen Banken um 11 Uhr englischer Lokalzeit einer zentralen Stelle jenen Zinssatz, zu dem sie von anderen Geldhäusern Kredite erhalten.
In der Krise versuchten die Institute, den Anschein von Normalität zu erwecken. Je tiefer der Zinssatz zur eigenen Verschuldung, desto sicherer die Bank, lautete damals das Motto. Also stellten die betroffenen Finanzmultis möglichst tiefe Sätze ins System. Vor der Krise kam es auch vor, dass eine Bank überhöhte Zinsen meldete, je nachdem, was für die Bewertung der eigenen Position günstiger war.
Wo schauten die Aufseher hin?
Gerüchteweise waren die Manipulationen seit langem ein Thema. Laut dem englischen Wirtschaftsblatt «Financial Times» konnten Händler mit grossen Eigenpositionen ihre Wünsche beim zuständigen internen Libor-Manager anmelden. Erfüllte dieser die Bitten der Frontleute, dann zeigten sich diese erleichtert und schmissen am nächsten Feierabend eine Runde.
Auch für die Regulatoren könnte Libor-Gate zum Desaster werden. Gerüchteweise soll die Bank of England (BoE) als oberste Überwacherin des Finanzplatzes in London längst Kenntnis von den Manipulationen gehabt haben. Doch statt den Hinweisen nachzugehen, liess die BoE den Dingen freien Lauf. Deshalb steckt nun auch die Notenbank im Schlammassel drin.
Der Libor bestimmte die Kosten des Lebens
Das ist umso erstaunlicher, als den Chef-Kontrolleuren selbstverständlich klar sein musste, was auf dem Spiel stand. Der von einem kleinen Club fixierte Libor hatte direkte Auswirkungen auf das Leben der kleinen Bürger. Hausbesitzer mit einer Hypothek, die auf Libor-Plus-Marge beruhte, waren ebenso vom Zins abhängig wie Unternehmer mit Geschäftskrediten, die je nach Libor mehr oder weniger kosteten.
Das System mit wenigen ausgewählten Banken, die untereinander den wichtigsten Preis für Geld festlegen konnten, lud zu einem Murks geradezu ein. Ein enger Kreis von Insidern, eine kleine Manipulation, eine gigantische Wirkung waren die Ingredienzien für «The Biggest Inside Job».
Kommt die Branche jetzt zur Besinnung?
Die Folgen könnten dramatisch sein. Wenn die Stimmung in der politischen Landschaft Englands innert kürzester Zeit kippt, dann sind weitere Schnitte in den Chefetagen der betroffenen Banken und bei den Aufsehern der Finanzmärkte zu erwarten.
Der Libor-Skandal ist von der Wirkung her vergleichbar mit dem Auffliegen des Ponzi-Schemas von Bernard Madoff. Ende 2008, wenige Wochen nachdem der Konkurs von Lehman Brothers die Finanzwelt an den Abgrund gebracht hatte, schickte der 50-Milliarden-Betrug des vermeintlich honorigen Investors Schockwellen durch die weltweite Vermögensverwaltung.
Wie bei Madoff folgt auch beim Libor-Skandal als Quintessenz, dass im Banking keinem vertraut werden kann. Es ist dieser Generalverdacht, der die Branche mehr beschädigt als jeder Milliardenverlust. Trau keinem Banker, lautet die Lehre für viele. Das komplette Misstrauen könnte zum Umdenken führen. Irgendwann hilft nur noch das grosse Reinemachen.