Der Euroraum zwischen Zerfall und Rettung
20minuten.ch (10. Mai 2010) – Der 750-Milliarden-Euro-Rettungsring soll einen Kollaps abwenden. Führende Ökonomen bleiben skeptisch. Ohne Schuldenverzicht drohe dem Euro der Zerfall.
EU-Wirtschaftsminister Olli Rehn begründete das historische Kreditpaket in einem Satz: «Wir verteidigen den Euro mit allem, was auch immer dazu notwendig ist.» Richtig müsste es wohl heissen: Die EU verteidigt ihre Einheitswährung mit allem, was sie hat.
Ob die Kräfte der EU reichen, um den Euro vor einem Zerfall und die EU vor der Zerreissprobe zu bewahren, bleibt offen. In Analogie zur Bankenkrise vor zwei Jahren befindet sich die europäische Staatengemeinschaft zwischen Bear Stearns und Lehman Brothers. Bear Stearns wurde mit einer Milliardengarantie der US-Notenbank gerettet, ein halbes Jahr später wurde Lehman fallen gelassen.
Griechenland ist wie Bear Stearns faktisch unter Zwangsverwaltung
Der Bear-Stearns-Moment der EU heisst Griechenland. Wie die kleinste der US-Investmentbanken wurde auch das Mini-EU-Mitgliedsland vor dem Bankrott bewahrt. Bear Stearns verlor die Eigenständigkeit und ging in der viel grösseren JP Morgan auf. Griechenland verliert ebenfalls seine Eigenständigkeit, was das freie Wirtschaften angeht. Faktisch wurde das Land unter administrative Zwangsverwaltung des Währungsfonds und der EU gestellt.
In der Finanzkrise von 2008 folgte im Herbst der Kollaps von Lehman, worauf die USA ein Hilfspaket im Umfang schnürten, wie dies nun die EU mit dem IWF tut. 700 Milliarden Dollar waren es damals, nun sind es maximal 750 Milliarden Euro. In Europa kauften die Staaten damals ihre maroden Banken weitgehend auf und garantierten die Spareinlagen der Bürger, in der Schweiz wurde die UBS mit einem 70-Milliarden-Franken-Paket gerettet. Die Interventionen beruhigten schliesslich die Märkte, grössere Bankenpleiten mit dem befürchteten Dominoeffekt blieben aus.
Steht der EU der Lehman-Moment noch bevor? Man könnte argumentieren, dass mit dem 750-Milliarden-Ring ein unkontrollierter Kollaps eines EU-Staats, der weitere Mitgliedsländer mit schiefer Bilanz in die Zahlungsunfähigkeit reissen könnte, rechtzeitig abgewendet wurde; dass sich mit anderen Worten die EU respektive der Euro-Raum bereits ausserhalb des Lehman-Szenarios befindet, indem die gigantische Finanzhilfe in weiser Voraussicht vor einem allfälligen Staatskonkurs gesprochen wurde.
Zumindest für den Moment überzeugt das Paket die Investoren. In Asien stiegen die Börsen um gut ein Prozent, der Euro notierte fester.
Ohne Schuldenverzicht keine nachhaltige Stabilisierung
Doch Spezialisten, die in der Finanzkrise immer wieder davor gewarnt hatten, dass die überschuldeten Banken mit Staatshilfen nicht nachhaltig gerettet werden können, bleiben skeptisch. Allen voran Willem Buiter, bis vor kurzem Professor an der London School of Economics, nun Chefökonom der US-Grossbank Citigroup, nota bene eines der grössten Opfer der Subprime-Krise. Für Buiter ist klar, dass nur eine Umschuldung das Problem wirklich aus der Welt schaffen kann.
Gemeint ist ein Schuldenverzicht der Gläubiger gegenüber Griechenland und allenfalls weiteren maroden Euro-Staaten. Nur so würden die Lasten der Krise auf mehrere Schultern verteilt. Die finanziell noch intakten Länder müssten sich einen Teil ihrer Forderungen ans Bein streichen, Griechenland könnte finanziell wieder atmen und sich ohne radikale Sparmassnahmen aus dem Sumpf befreien. Ein ultra-harter Sparkurs würde hingegen die Nachfrage im Land vollends abwürgen, dann wäre Griechenland erst recht am Boden und könnte gar keine Schulden mehr bedienen.
Auch der Schweizer Privatbankier und Autor intelligenter Anlegerkommentare Konrad Hummler warnt davor, sich mit den Rettungsaktionen in falscher Sicherheit zu wiegen. In seinem jüngsten Kommentar vom 3. Mai skizziert Hummler unter dem Kapitel «Von Bear Stearns zu Griechenland», wie der Euro-Raum in eine Abwärtsspirale geraten ist. Es fehle der «unermesslich belastbare ultimative Gläubiger», um die Märkte wirklich zu beruhigen.
«Wir bezweifeln das lebhaft»
Die nächsten Tage werden zeigen, ob die 750 Milliarden Euro die EU in den Augen der Märkte zum «unermesslich belastbaren» Gläubiger machen werden, um Hummlers Worte zu gebrauchen, oder ob es eben doch nur mit einem Teil-Schuldenverzicht eine nachhaltige Besserung geben wird. «Wird die Beruhigung gelingen?», fragt Hummler, und gibt gleich selbst die Antwort: «Wir bezweifeln das lebhaft.»
Das Problem mit dem Schuldenverzicht sind – einmal mehr – die Banken. Sie sind es, welche die grössten offenen Forderungen gegenüber den überschuldeten EU-Staaten haben. Ein Schuldenverzicht würde erneut zu einem Milliardenabschreiber in ihren Bilanzen führen. So gesehen ist das 750-Milliarden-Paket der Staatengemeinschaft ein Versuch zur Rettung der eigenen Banken und des westlichen Finanzsystems.