Opfer und Täter. Oder nur Opfer?

Von Jens Hartmann und Lukas Hässig

Für die Polizei und die Medien ist der Fall klar: Ein Mann ersticht einen Lotsen, den er für den Tod seiner Frau und seiner Kinder verantwortlich macht. Doch das Puzzle, das zur Verhaftung führte, weist Löcher auf.

Ob der verhaftete Russe Witali Kalojew den Fluglotsen von Kloten erstochen hat, ist ungewiss. Ein Nachbar des Lotsen beschreibt den Täter jedenfalls anders, als Witali Kalojew auf Fotos aussieht. Das Tätersignalement passt auch nicht zur Beschreibung der Hotel-Receptionistin, die Kalojew mehrmals gesehen hat; zudem schildern ihn der Klotener Flughafenpfarrer und eine Dolmetscherin, die Kalojew nach dem Absturz von Überlingen als Erste betreuten, als religiösen und in sich gekehrten Mann. Im Bild vom jähzornigen Kaukasier, das von Polizei und Medien gezeichnet wird, können sie ihn nicht erkennen. Und: Der Verhaftete hat eine Woche nach seiner Festnahme kein Geständnis abgelegt – für Rachemörder ein ungewöhnliches Verhalten. Der Psychologe Peter Fässler-Weibel sagte der Sonntagszeitung: «Seltsam ist, dass er die Tat nicht gleich gestanden hat.»

Unzureichender Erkenntnisstand

Der Zürcher Bezirksanwalt Pascal Gossner lässt sich dadurch nicht beirren. «Es bestehen keine Hinweise, dass Herr Kalojew nicht der Täter sein sollte», sagte er am Dienstag. DNA-Spuren und Fingerabdrücke, die vermeintlich rasch abgeglichen seien, müssten ins Gesamtbild passen. Witali Kalojews Alibi sei «in Prüfung».

Vergangenen Donnerstag haben die Behörden an einer weltweit beachteten Pressekonferenz ihren raschen Fahndungserfolg offen gelegt. Alles passte wunderbar zusammen: Ein 48-jähriger Mann, der im Sommer 2002 seine Frau und seine zwei Kinder beim Flugzeugunglück von Überlingen am Bodensee verloren hatte, wurde in einem Hotel nahe des Tatorts aufgespürt. Motiv und Möglichkeit zur Tat waren somit gegeben. Trotzdem sagte nach der Pressekonferenz ein hoher Polizeibeamter im Gespräch unter vier Augen: «Normalerweise würden wir bei diesem Erkenntnisstand niemals an die Öffentlichkeit treten.» Dazu brauche es ein Geständnis oder gesicherte Übereinstimmungen von Fingerabdrücken und Blutspuren. Doch die Medien hätten sowieso von der Verhaftung vom Vortag erfahren. Sofort wäre spekuliert worden, dass der Inhaftierte der Mörder des dänischen Fluglotsen Peter N. von der Schweizer Flugüberwachungsfirma Skyguide sei.

Das Vorgehen der Polizei ist heikel – zu vieles passt noch nicht ins Bild. Die erste Unstimmigkeit: Als die Frau des ermordeten Fluglotsen am Dienstag, dem 24. Februar um 18 Uhr laut um Hilfe schrie, rannte ihr Nachbar, Herr B., sofort los. Vom Haus des Fluglotsen kam ihm ein Mann entgegen. Augenzeuge B. sagte sich in diesem Moment: «Der hat sicher etwas mit dem Schreien zu tun, ich muss mir dieses Gesicht genau merken.» B. sah, wie sich der unbekannte Mann im Schnee die Hände reinigte und dann rasch davonlief. Als die Polizei um 18.15 Uhr am Tatort eintraf, wurde B. drei Stunden lang befragt. Der Weltwoche sagte B., er habe der Polizei Haare und Bart des flüchtenden Unbekannten wie folgt beschrieben: relativ hell und grau, aber sehr dicht gewachsen, also keine Glatze, relativ kurz geschnitten. Der Bart war ebenfalls gestutzt und gepflegt.

Die Kantonspolizei veröffentlichte drei Stunden nach der Tat einen ersten Fahndungsaufruf : «Kurze, gewellte Haare, grauer Bart.» Nochmals dreiviertel Stunden später erfolgte ein ausführliches Communiqué mit dem Hinweis, dass es sich bei dem Getöteten um den Unglückslotsen von Überlingen handle. Nun hatte der Verdächtige einen «Dreitagebart, schwarz-graue, kräftige Haare – kurz gewellt.» Diese Beschreibung wurde am nächsten Nachmittag, etwa zur gleichen Zeit als Witali Kalojew verhaftet wurde, konkretisiert: der Täter habe einen schwarzen Mantel und schwarze Hosen getragen.

Das Signalement der Polizei muss sich auf drei Aussagen abstützen: der von Nachbar B., der einer zweiten Nachbarin, die dem Täter den Weg zum Haus des späteren Opfers gezeigt hatte, und der Beschreibung der Ehefrau des Mordopfers. Eine Gegenüberstellung, zumindest mit B., fand bis Anfang dieser Woche nicht statt.

Witali Kalojew, der sich am Tag nach der Tat widerstandslos im Klotener Hotel «Welcome-Inn» verhaften liess, wird von der Hotel-Receptionistin anders beschrieben als der gesuchte Verdächtige. Sie erinnert sich gut an ihren Gast, der fünf Tage lang zurückgezogen in Zimmer 316 lebte. «Am Montag sah ich Herrn Kalojew das letzte Mal. Da hatte er einen Dreitagebart. Herrn Kalojews Haare sind oben gelichtet, an der Seite ist er hellgrau. Er trug immer dunkle Kleider. Ob er einen Mantel getragen hat, weiss ich nicht mehr.» Auch die von den Schweizer Zeitungen veröffentlichten Fotos zeigen Witali Kalojew mit schütterem Haarwuchs. Von dichtem Haar und gepflegtem Vollbart kann keine Rede sein.

Das zweite Fragezeichen: Der von der Polizei als mutmasslicher Rachemörder vorgeführte Witali Kalojew wäre extra aus dem fernen russischen Kaukasus in die Zürcher Flughafenstadt Kloten gereist, um seine Liebsten zu sühnen. Dann aber könnte Kalojew zu seiner Tat stehen und müsste sich nicht mit einem falschen Alibi schützen. Diana Solojewa, wohnhaft in Kalojews Stadt Wladikawkas, sagte der Moskauer Zeitung Gaseta: «In den alten Zeiten hätte man für einen solchen Mann ein Lied verfasst. Wo gibt es noch solche Männer, die so ihrer Familie ergeben sind?»

Rachemörder reagieren anders

Trotz Verständnis in seiner Heimat hat Kalojew die Tat immer noch nicht gestanden, stattdessen wurde er letzten Freitag in die zürcherische Psychiatrieklinik Rheinau verlegt. Es bestehe Suizidgefahr, die Befragung solle aber weitergehen, so die Ermittler.

Zu einem Mord aus Rache würde eher passen, dass sich der Täter unmittelbar nach dem Verbrechen der Polizei stellt. Wie es Mitte Januar dieses Jahres der Hauptaktionär einer Schaffhauser Informatikfirma tat, der seinen Geschäftsführer in dessen Büro erschoss und sich sogleich stellte. Der Geschäftsführer habe ihm die Kontrolle über seine eigene Firma wegnehmen wollen, lautete die lakonische Begründung des Täters.

Ein dritter Punkt passt nicht ins Bild des wilden Rachemörders: Witali Kalojew wird von jenen zwei Schweizern, die ihn am intensivsten kennen gelernt haben, entgegen der verbreiteten Meinung als lammfromm beschrieben. In der Unglücksnacht von Überlingen wartete Kalojew vergebens im Flughafen Barcelona auf seine Liebsten. Kaum hatte er vom Absturz gehört, flog er am 2. Juli 2002 mit der ersten Swiss-Maschine nach Zürich. Dort wurde er um neun Uhr von zwei Leuten empfangen: Dem reformierten Flughafenpfarrer Walter Meier und der Dolmetscherin Jekatarina Stüdeli-Nekrassova. Gemeinsam liessen sich die drei im Taxi zur Absturzstelle im deutschen Überlingen fahren. Es war das erste Mal, dass Witali Kalojew seit der Tragödie Schweizer Boden betrat und hier mit Schweizern in Kontakt kam.

«Witali war sehr verschlossen», erinnert sich Jekatarina Stüdeli im Gespräch mit der Weltwoche, «er hat die ganze Zeit geraucht und fast nichts gesagt. Als wir auf der Unfallstelle ankamen, sank er auf die Knie und betete. Witali war zwei Tage vor allen anderen Hinterbliebenen da, und die Rettungskräfte wussten nicht so recht, was sie mit ihm anfangen sollten. Auf sein Bitten hin liessen sie ihn die Absperrung passieren. Bei der abgetrennten Heckflosse des baschkirischen Flugzeuges sank Witali erneut nieder, weinte und betete. Später fand ein Gottesdienst statt. Witali nahm daran nicht teil. ‹Ich kann Gottes Bestrafung nicht verstehen. Ich weiss nicht, warum er mir das antut›, sagte er. Immer noch ass er nichts, trank nur Kaffee und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Irgendwann fand Witali seine kleine Tochter Diana. Sie wies, trotz des Sturzes aus 11 000 Metern, kaum äussere Verletzungen auf. Für das Begräbnis zog er Diana schöne Kleider an und setzte sie nach Tradition der Osseten aufrecht in den offenen Sarg.»

Witali Kalojew war der einzige Hinterbliebene, der lange am Unglücksort blieb. Alle übrigen Angehörigen der Verunglückten, die Mehrheit aus der baschkirischen Hauptstadt Ufa, wurden auf Geheiss der russischen Behörden schon nach einem Tag in die Heimat verfrachtet. «Eine Woche später sah ich Witali wieder in Zürich», sagte Dolmetscherin Stüdeli, «ich erkannte ihn kaum, so grau war er geworden, um zehn Jahre gealtert. Witali wollte mit den drei Särgen von Zürich nach Moskau fliegen. Wieder weigerte er sich, an einem Gottesdienst am Flughafen teilzunehmen. Dafür rief er mich eine Woche später aus Russland an und bedankte sich für die grosse Hilfe der deutschen Rettungskräften der Bewohner von Überlingen, von Flughafenpfarrer Walter Meier, von mir. Die Skyguide erwähnte er nicht, aber er sagte: ‹Man kann das Unglück nicht rückgängig machen.›»

Frau Stüdeli sah Kalojew danach nur noch einmal, am 3. Juli 2003, als einige Hinterbliebene nach der Jahrestrauerfeier in Überlingen zum Zürcher Flughafen kamen, um sich von der Skyguide den Ablauf des Flugzeug-Zusammenstosses erläutern zu lassen. «Ich traf Witali draussen zwischen den beiden Terminals. Er stand neben seinem Schwager und trug einen langen Bart. Wir umarmten uns und weinten. Wieder sagte er fast nichts. Als ich ihn fragte, ob er arbeite, verneinte er leise. Eine Russin, die ebenfalls zur Gruppe gehörte, bemerkte abschätzig, wie man nur auf so einen Gedanken kommen könne. Danach hörte ich nichts mehr von Witali. Kurz vor dem Verbrechen wurde ich zweimal per Handy gesucht, doch ich kam zu spät. Die Rufnummererkennung war unterdrückt. Ich denke, wenn Witali der Mörder war, könnte er dazu stehen.» ›››

So weit die Ausführungen der Dolmetscherin Jekatarina Stüdeli, die seit dreissig Jahren in der Schweiz lebt und an der Sprachschule der früheren Swissair lehrte. Der Zürcher Flughafen-Seelsorger Walter Meier, der letzten Freitag zusammen mit seinem katholischen Kollegen den Gottesdienst für den ermordeten Fluglotsen hielt, hat Witali Kalojew ebenfalls als sehr religiösen Menschen in Erinnerung. «Als Witali mit seinen Särgen aus Überlingen hier ankam, wurde er von drei Männern eines deutschen Bestattungsunternehmens begleitet. Was ich dann sah, werde ich nie mehr vergessen: Die Bestattungsmänner, alle etwa fünfzig Jahre alt, die schon viel Trauer gesehen hatten, standen da, mit Tränen in den Augen. So Leid tat ihnen dieser Russe, der seine Familie verloren hatte.»

Bisher wurde Witali Kalojew in den Medien meist als grobschlächtiger Kaukasier geschildert, der Rache geschworen hat. Insbesondere eine Aussage, die Kalojew zugeordnet wird, machte aus dem Verhafteten vorschnell einen Mörder. «Der Lotse ist ein Schurke. Mit Schurken reden wir im Kaukasus auf unsere Weise.» Kalojew soll die Drohung anlässlich seines Zürcher Besuches nach dem Trauerjahrestag ausgestossen haben. Unter anderem der Sonntagsblick hat sie prominent publiziert. Welcher Journalist sie als Erster veröffentlicht hatte, ist nicht bekannt. Möglicherweise stammte sie aus russischen Medien.

Ein Mord, ein Anruf, ein Alibi

Das Bild des jähzornigen Kaukasiers, das fundamental kontrastiert mit den Beobachtungen der zwei Schweizer Zeugen, wurde auch von den Ermittlern genährt. Der Zürcher Bezirksanwalt Pascal Gossner erklärte nach der Verhaftung, dass Kalojew durch «auffälliges, aufgeregtes Verhalten» während der Jahrestrauerfeier vom Sommer 2003 Aufsehen erregt habe. Woher der Bezirksanwalt die Infor- mation hat, ist offen. Jedenfalls stammt sie nicht von den Verantwortlichen der Flugsicherung Skyguide. Nachdem zahlreiche Medien berichteten, Witali Kalojew habe Skyguide-Chef Alain Rossier bedrängt, sagte dieser: «Es waren Begegnungen, die in einer vernünftigen Atmosphäre stattfanden. (…) Es ist völlig klar, dass zu Beginn einer solchen Begegnung Unverständnis herrscht. Aber genau darum ist es wichtig, miteinander zu sprechen. Wir sind in gutem Einvernehmen auseinander gegangen.»

Ein Hinweis von Skyguide, der im Zug der sich überstürzenden Ereignisse bisher unbeachtet blieb, könnte an Bedeutung gewinnen: Die Schweizer Flugsicherung erhielt kurz nach der Ermordung ihres Fluglotsen einen Anruf aus Russland. Am anderen Ende nannte jemand den Namen des vermutlichen Mörders. Skyguide leitete die Information an die Kantonspolizei Zürich weiter. Am Folgetag wurde Witali Kalojew verhaftet. Ob der russische Anrufer Kalojews Name genannt hat, will Skyguide nicht verraten. Auch dessen Identität gibt sie nicht bekannt.

Hatte jemand ein Interesse, die Polizei möglichst rasch auf Witali Kalojews Spur zu bringen, um selbst unerkannt zu bleiben? Hat vielleicht jemand anders den dänischen Lotsen Peter N., der seit Ende 1995 für Skyguide arbeitete und mitverantwortlich war für den Tod von 71 Menschen, am 24. Februar 2004 umgebracht? Das Signalement der Augenzeugen passt nur teilweise zu Kalojew; sein Alibi wurde bisher nicht widerlegt; der Kaukasier wird nicht als typischer Rachemörder geschildert.

Das Puzzle ist löchrig

Wladimir Gagijew, knapp vierzig Jahre alt, ist der Schwager von Witali Kalojew. Beim Flugzeugabsturz verlor Gagijew seine Schwester Swetlana, Witalis Ehefrau. Gagijew begleitete den Tatverdächtigten Kalojew im Sommer 2003 zur Trauerfeier nach Überlingen und von dort nach Zürich Kloten. Wie Kalojew lebt auch Gagijew in der ossetischen Hauptstadt Wladikawkas. Hier zog Bauingenieur und Architekt Kalojew in acht Jahren Eigenleistung ein dreistöckiges Backsteinhaus hoch. Auf dem Wohnzimmertisch stapeln sich Fotoalben, in der Küche läuft der Fernseher. Die russischen Nachrichten berichten in aller Ausführlichkeit über den Mord in der Schweiz. «Die haben keinerlei Beweise», sagt Gagijew. «Witali kann keiner Fliege etwas zuleide tun.» Man kann den Blick von den drei Altären nicht lassen, die im Wohnzimmer aufgebaut sind. Drei Betten stehen nebeneinander, Totenbetten mit Fotografien am Kopfende. Auf den Laken liegen Schokoriegel, Parfümflaschen, eine tönerne Schildkröte, Kaugummis, eine Spielzeugpistole, Spider-Man und «Big Mouth Larry Lobster», ein singender Hummer: Spielzeug und Wegzehrung für das Totenreich.

Möglicherweise landete Witali Kalojew am Mittwoch, dem 18. Februar, sechs Tage vor dem Mord, nicht allein in Zürich Kloten. War jemand aus seinem Bekanntenkreis mit an Bord? In Wladikawkas blockt man solche Fragen ab. «Dazu sagen wir nichts», antworten Witalis Verwandte.

Konnte der als religiös und völlig in sich gekehrt beschriebene Kalojew unzählige Male auf sein Opfer einstechen? Und zwar so, dass dieses innert kürzester Zeit innerlich verblutete? Oder war ein Profikiller am Werk?

Vor einigen Wochen beobachtete ein Bewohner des Rebweg-Quartiers in Zürich Kloten, wie ein Unbekannter das Haus von Fluglotse Peter N. fotografierte. Das beunruhigte ihn, er meldete den Vorfall der Polizei. Dort habe man ihn nicht ernst genommen. Ob es sich beim Fotografen um einen Osteuropäer handelte, wollte der Nachbar nicht sagen. Seinem Hinweis würde jetzt aber nachgegangen.

Das Vorgehen am Tatort spricht eher für einen Profi. Der Unbekannte klingelte nicht an der Haustür von Lotsenfamilie N., sondern stieg die Wiese hoch zum Gartensitzplatz, von wo aus er durch auffällige Bewegungen den Fluglotsen aus der Wohnung lockte. Hätte der Mörder an der Haustür geklingelt, wäre er ein unkalkulierbares Risiko eingegangen: Zum Hauseingang kommt man von der Strasse her einzig über einen Treppenabstieg; unten angelangt, ist man den Blicken der Nachbarn ausgesetzt. Und der Fluchtweg zurück die Treppe hoch ist gefährlich, weil ein zu Hilfe eilender Nachbar den engen Durchgang von oben her versperren kann. Der Täter sässe in der Falle.

Das Puzzle der Indizien lässt Zweifel an Witali Kalojew als Mörder zu. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Polizei in einem aufsehenerregenden Fall zuerst den Falschen verhaftet. Nach der Ermordung der schwedischen Aussenministerin Anna Lindh im vergangenen Herbst nahm sie eine Woche nach der Tat einen 35-jährigen Schweden in Gewahrsam. Gleichentags überprüfte die Polizei einen 25-jährigen Sohn serbischer Einwanderer, der geständig war. Doch weil Letzterer verwirrt auf die Beamten wirkte, luden sie ihn in einer psychiatrischen Klinik ab. Zähneknirschend musste die Polizei später den Schweden freilassen, der Täter war der Serbe.

Genügt das mögliche Motiv einer Blutrache, Witali Kalojew als einzigen Verdächtigten in Untersuchungshaft zu sperren? Bei Tee und Heidelbeermarmelade, unter einem Porträt von Präsident Wladimir Putin, erzählt Elbrus Sazajew über Sitten und Gebräuche der Völker des Kaukasus. «Wir haben hier Computer und Internet. Die Traditionen hängen aber schwer über uns.» Der Professor für Völkerkunde beschreibt den das Leben hier bestimmenden Dreiklang. Der erste Kanon lautet: Die Familie ist zu schützen, sie ist heilig. Der zweite: Wenn für Unrecht keine Bestrafung erfolgt, muss man selbst aktiv werden. Der dritte Kanon: Diese Bestrafung kann umgangen werden, wenn der Schuldige Abbitte leistet. Dieses Verhaltensmuster hat sich herausgebildet, um den fatalen Kreislauf der Blutrache, die über Jahrhunderte wie ein Fluch über dem Kaukasus lag, zu durchbrechen.

Der dritte Kanon, die Abbitte, wurde von den Schweizern nicht beachtet. Der Fluglotse hätte nach Wladikawkas fahren und um Verzeihung bitten müssen, meint Kaukasusforscher Sazajew. Mittler wie er hätten das Ansinnen an die Kalojews herantragen können. Nach einem Fehler wie jenem des Lotsen wäre eine Versöhnung wahrscheinlich gewesen. «Ein Kniefall, danach eine materielle Kompensation, und alle hätten weiterleben können.»


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