In Shorts und Schlarpen am Radar

Der Bericht der deutschen Behörden zum Flugzeugunglück von Überlingen wird aufzeigen: Bei Skyguide herrschen weder Moral noch Disziplin.

Wenn die deutschen Untersuchungsbehörden am nächsten Mittwoch ihren Schlussbericht zum Flugzeugunglück von Überlingen veröffentlichen, dürfte die helvetische Flugsicherung Skyguide am stärksten unter Beschuss geraten. «Skyguide steht im Zentrum der Untersuchung», bestätigt der Chef des Schweizer Flugunfallbüros, Jean Overney, der im Auftrag der Deutschen die Befragungen hierzulande durchgeführt hat. «Der Bericht wird auf jeden Fall grosse Wellen werfen.» Beim Zusammenprall zweier Jets über dem Bodensee am 1. Juli 2002 waren 71 Menschen gestorben.

In der Flugsicherung dominieren militärische Vokabeln. Präzise Anweisungen, eine ausgefeilte Technik und strikte Disziplin sollen garantieren, dass selbst im Ernstfall nichts schief läuft. Stattdessen erhält man kommende Woche Einblick in eine Firma, bei der nicht Moral und Gehorsam, sondern Nachlässigkeit dominiert. Dies bestätigen mehrere Skyguide-Angestellte. Die Schweizer Fluglotsen hatten nicht eine Kultur der Sicherheit gepflegt, sondern profitierten vor allem von ihrer Unersetzlichkeit. Wegen des lang anhaltenden Personalmangels können die Gewerkschafter dem Management laufend neue Zugeständnisse abringen. Heute verdient ein Flugverkehrsleiter bis zu 182000 Franken im Jahr, das sind 14000 Franken im Monat bei 13 Raten. Dazu kommen sieben Wochen Ferien und eine Frühpensionierung mit 55, zum grössten Teil finanziert von der Firma. Trotzdem forderten die Lotsen in den diesjährigen Gesamtarbeitsvertrags-Verhandlungen weitere Zugeständnisse. Sie beantragten eine Reduktion der wöchentlichen Arbeitszeit am Radarschirm von 29 auf 26 Stunden. Weil damit ein Dienst rund um die Uhr verunmöglicht würde, haben sich Lotsen und Management auf zusätzliche Ferientage geeinigt.

Hohe Löhne, lockere Sitten

Heinz Lehmann, Präsident des Deutschschweizer Lotsenverbands, widerspricht dem Bild von den verwöhnten Fluglotsen. Die Bedingungen seien angemessen, sagt Lehmann. «Wahrscheinlich ist diese Beurteilung nur nachvollziehbar, wenn man selber einige Jahre in diesem unregelmässigen Rhythmus gearbeitet hat. Mit 27 steckt man das noch locker weg. Aber bereits ab Mitte 30 reagiert der Körper zunehmend sensibler auf die dauernd ändernden Arbeitszeiten. Ein natürlicher Rhythmus, auch in Bezug auf Essens- und Schlafenszeiten, kann, ausser in den Ferien, gar nie mehr entstehen. Diesem Umstand wird auch vorsorglich begegnet, um die Flugverkehrsleiter nicht langfristig zu verheizen.»

Trotz der hohen Löhne herrschen lockere Sitten im Kontrollraum. Lotsen traten im vergangenen Hitzesommer ihren Dienst am Flughafen Zürich Kloten in Shorts und Schlarpen an. Auch sind Flugverkehrsleiter, die während ihrer Schicht am Radarschirm eine Pizza verschlingen, keine Seltenheit. «Ein Jahr nach Überlingen schien das Unglück bei den meisten weitgehend verdrängt zu sein», kritisiert ein Kadermann der Skyguide.

In der Luftfahrt gilt das Prinzip «Safety first» ­ Sicherheit hat Vorrang. Das machen sich auch die Lotsen zunutze. Kaum versucht das Management, die Effizienz zu erhöhen, wird lautstark davor gewarnt, dass die Sicherheit in Gefahr sei. Obwohl diese möglicherweise gar nicht beschnitten würde. Die Arbeitszeiten zu verlängern und sich so im Unglücksfall dem Vorwurf auszusetzen, Abstriche an der Sicherheit vorgenommen zu haben, wagt kaum ein Vorgesetzter. Und schon gar nicht ein Branchenfremder.

Zögerndes Management

Alain Rossier wechselte im März 2001 vom Schweizer Telekomkonzern Swisscom zur Flugsicherung Skyguide. Der 46-Jährige steht im Ruf, ein Manager zu sein, der genau zuhören kann und über eine hohe Glaubwürdigkeit beim Personal verfügt. In monatlichen Gesprächen steht er den Lotsen Red und Antwort. Das habe den früheren Graben zwischen Management und Basis geschlossen, sagt ein Abteilungsleiter. Auch Gewerkschaftsboss Heinz Lehmann spricht von einem intakten Verhältnis zwischen Kader und Verkehrsleiter. Das Einvernehmen sei gut.

Vielleicht zu gut. Alain Rossier hatte es verpasst, durch harte Massnahmen gegen die in das Unglück von Überlingen Involvierten ein Zeichen zu setzen. Solange die Schuld des zuständigen Lotsen nicht durch eine unabhängige Untersuchung nachgewiesen sei, könne man ihn nicht entlassen, beschied der Skyguide-Chef. Dass man disziplinarische Massnahmen auch aufgrund interner Abklärungen hätte ergreifen können, schien Rossier fremd zu sein.

Dabei waren die Fehler jenes Fluglotsen, der im Februar des laufenden Jahres vor seinem Haus in Kloten ermordet wurde, und seiner Vorgesetzten schon am Tag nach dem Unglück offensichtlich, wie ein erster Zwischenbericht der deutschen Behörden aufzeigte. Der Verkehrsleiter hatte um 23 Uhr 15 eingewilligt, dass sich der zweite diensthabende Lotse in den Aufenthaltsraum zurückzieht, wo eine kleine Küche, Schreibtische und Liegesessel zur Verfügung stehen. In jener Nacht wurden bei Skyguide technische Wartungsarbeiten durchgeführt, gewisse Systeme und Telefonleitungen waren ausser Betrieb. Als Folge musste der Lotse die Piloten frühzeitig warnen, spätestens aber eine Minute vor einem möglichen Crash. Der Lotse, der Mitte der neunziger Jahre von der dänischen Flugsicherung nach Zürich gewechselt hatte, war längere Zeit mit einer den Flughafen Friedrichshafen ansteuernden Maschine beschäftigt. Erst 44 Sekunden vor dem Aufprall bemerkte er den Kollisionskurs und befahl dem Captain der russischen Tupolew, um 300 Meter abzusinken. «Expedite», beschleunigen, fügte er an. Warum es sieben Sekunden dauerte, bis der Pilot den Sinkflug einleitete, wird der Untersuchungsbericht ausführen.

Sicher ist, dass zur gleichen Zeit, als die Tupolew zu sinken begann, das Antikollisionssystem der von Süden anfliegenden Boeing 757 ebenfalls einen Sinkflug befahl. Während der restlichen 37 Sekunden steuerten die beiden Captains ihre Hunderttonnen-Jets statt aus- direkt gegeneinander. Die späte Warnung des Skyguide-Lotsen in Kombination mit einem technischen System, das den Fehler des Lotsen nicht zu erkennen imstande war, führte zu einer bis dahin nicht für möglich gehaltenen Katastrophe.

Die Reihe schwerer Fehler bei Skyguide war damit nicht zu Ende. Gegenüber den Medien hatte der Vorgesetzte des Lotsen anfänglich behauptet, der russische Pilot sei ein erstes Mal zwei Minuten vor dem Zusammenprall gewarnt worden und habe erst nach der dritten Aufforderung reagiert. «Zu diesem Zeitpunkt war längst klar, dass der Verkehrsleiter den Piloten weniger als eine Minute vor der Kollision gewarnt hatte», sagt heute ein Skyguide-Manager.

Schlecht vorbereitet waren auch die Wartungsarbeiten. Insbesondere hatten die Verantwortlichen nicht sichergestellt, dass die Lotsen unter den üblichen Nummern telefonisch erreichbar blieben. Ein deutscher Flugverkehrsleiter hatte erfolglos versucht, den Lotsen über die Gefahr ins Bild zu setzen.

Trotz dieser Versäumnisse wurde bei Skyguide nur eine Person entlassen: die Kommunikationschefin. Weder der Lotse noch dessen Chef oder der für die technischen Systeme verantwortliche Direktor wurden zur Rechenschaft gezogen. Selbst jener Verkehrsleiter, der im Sommer 2003 einem Helikopter aus Jux den Erkennungscode «Al-Kaida» gegeben hatte und beinahe einen Abschuss durch französische Militärjets provozierte, durfte bleiben.

In Wladikawkas, der Heimatstadt des mutmasslichen Lotsen-Mörders Witali Kalojew, sind die Menschen bis heute wütend. Der Lotse hätte hinter Gittern sitzen müssen und nicht vor dem Radarschirm, heisst es dort. Für Witalis Bruder Gagijew ist klar, dass Skyguide fahrlässig handelte, die Sicherheitsbestimmungen grob vernachlässigte und somit für den Zusammenstoss verantwortlich ist. Er erhofft sich vom Bericht «Wahrheit» und von Skyguide «endlich das Eingeständnis der Schuld und die Worte: Verzeihen Sie uns!».


Einen Kommentar schreiben