«Die Abzocker-Initiative ist zu schwach»

20minuten.ch (11. März 2010) – Der Nationalrat hat heute eine grosse Abzocker-Debatte geführt. Doch der Freiburger Ökonomieprofessor Reiner Eichenberger ist skeptisch. Die Forderungen von Abzocker-Initiant Thomas Minder und seiner Mitstreiter bewirkten wenig, sagt er im Interview mit 20 Minuten Online.

Im Nationalrat hat die Abzocker-Initiative heute Donnerstag für heisse Köpfe gesorgt. Für den Wirtschaftswissenschaftler Reiner Eichenberger wird die Abzocker-Vorlage an der bestehenden Mentalität aber kaum etwas ändern. Nötig sei ein System à la Direktdemokratie: Kampfwahlen um den Verwaltungsrat, Alternativ-Lohnsummen und eine Delegation der eigenen Stimme an «Wirtschaftsparteien».

Herr Eichenberger, Sie haben in der NZZ geschrieben, die Abzocker-Initiative und deren Gegenvorschläge führten am Ziel vorbei. Dabei zittert doch die ganze Wirtschaftselite davor.

Reiner Eichenberger: Zittern? Die Wirtschaft hat gemerkt, dass weder Initiative noch Alternativvorschläge ein ernsthaftes Problem für sie darstellen. Mit dem, was Thomas Minder und die auf den Zug aufgesprungenen Politiker fordern, wird sich praktisch nichts ändern. Die Initiative ist schlicht zu schwach dafür.

Seit Monaten gehen die Wogen hoch, und nun kommen Sie und sagen, Minders Initiative sei schwach.

Lassen Sie mich die Politik als Bild heranziehen. Da geht es ebenfalls um die Kontrolle von Macht durch Individuen. Bei politischen Abstimmungen haben wir immer eine richtige Auswahl zwischen dem neuen Vorschlag und dem Status quo. Wenn nun aber die Aktionäre über ein Gehaltspaket für die Firmenleitung abstimmen, haben sie diese Auswahl nicht. Sagen sie nein, stürzt ihr Unternehmen meist ins Chaos. Das zwingt sie praktisch, ja zu sagen. Zu tieferen Löhnen kommt es kaum.

Dem Aktionär steht es schon heute frei, Kampfkandidaten und tiefere Lohnsysteme an der Generalversammlung zu fordern.

Die Dynamik, wie wir sie von Gemeindeversammlungen her kennen, gibt es an Generalversammlungen nicht. Um einen Kampfkandidaten auf die Traktandenliste zu setzen, braucht es riesige Aktienpakete. Diese Hürde müsste massiv gesenkt werden. Doch weder Minder noch die Gegenvorschläge zielen in diese Richtung.

Sie brachten Ihre Vorschläge erst unmittelbar bevor der Nationalrat die Abzocker-Initiative behandelt. Warum so spät?

Ich vertrete mein Modell einer wirksamen, wettbewerbsorientierten Aktionärsdemokratie seit vielen Jahren. Doch vielen Wirtschaftskapitänen wäre ein solches System ein Gräuel, während die Vorschläge eines Aussenseitertyps wie Thomas Minder zwar unangenehm sind, aber letztendlich kalkulierbar. Abstimmungen über Gesamtlöhne und kurze Wahlperioden für die Verwaltungsräte kennt man vom Ausland her.

Ihre Ideen sind revolutionär, aber nur in Universitätskreisen ein Thema. Wie läuft der Diskurs?

Viele meinen, der Aktienmarkt schütze die Aktionäre: «Der Aktionär ist frei, die Titel der Unternehmung, an die er nicht mehr glaubt oder mit deren Führung er unzufrieden ist, zu verkaufen». Doch das ist kreuzfalsch. Wenn ein Aktionär merkt, dass es mit seiner Firma bergab geht, ist der Preis der Aktie längst abgestürzt. Ob es sich lohnt, auf bessere Zeiten zu warten, weiss niemand. Noch schlimmer: Will er verkaufen, braucht er zwingend einen Käufer. Wie ein Ausreisewilliger, der das Land nur verlassen darf, wenn er einen Zuwanderer findet. Stellen Sie sich das für die ehemalige DDR vor!

Sie plädieren sogar für das, was Minder & Co. unter allen Umständen abschaffen wollen: die Stimmrechtsdelegation. Viele denken, genau das sei schlecht für die Aktionärsdemokratie.

In der Politik können wir auch nicht alles an einer physischen Versammlung regeln. Also wählen wir Parteien, delegieren unsere Stimme einer professionellen Organisation. Das Gleiche sollten Aktionäre tun können: Sie übertragen anonym und jederzeit widerrufbar ihr Stimmkraft jener «Wirtschaftspartei», die ihre Anliegen am ehesten vertritt. Ethos, die nachhaltiges Wirtschaften propagiert, steht dann in Konkurrenz zu McKinsey mit ihren strategischen Würfen. Und das Schönste an diesem Modell: Die Unternehmen könnten die Arbeit dieser Wirtschaftsparteien finanzieren. Langfristig käme ihnen die Effizienz und Professionalität solcher Profi-Delegierten in Form von mehr Unternehmenswert zugute.


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