Auf den Absturz folgte der Weg ins Grounding

20minuten.ch (3. September 2008) – Eine voll besetzte MD-11 stürzte am 3. September 1998 ins Meer. Das Unglück steht am Anfang des einzigartigen Firmen-Crashs. Kurz danach übernahm die Swissair mehrere ausländische Airlines, an denen sie später zugrunde ging.

56 Minuten nach dem Start in New York melden die Piloten von SR111 mit Destination Genf Rauch im Cockpit. Die Bodenkontrolle im kanadischen Moncton empfiehlt den Flugahfen Halifax für die angeforderte Notlandung.

Die Lage an Bord der dreimotorigen MD-11 mit 215 Passagieren und 14 Crew-Mitgliedern scheint anfänglich bewältigbar, gerät dann aber innerhalb weniger Minuten ausser Kontrolle.

Um 3 Uhr 24 mitteleuropäischer Sommerzeit, zehn Minuten nach der erster Warnung, setzt SR111 einen «emergency call» ab (unmittelbare Gefahr für Leib und Leben). Einige Sekunden danach bricht der Funkkontakt ab, der Flugdatenschreiber gibt seinen Dienst auf. Die Lotsen am Boden kriegen noch Gesprächsfetzen aus dem Cockpit mit, dann wird es still.

Beobachter aus dem 50-Seelen-Dorf Peggys Cove an der kanadischen Atlantikküste hören Flugzeugbrummen und sehen ein Grossflugzeug im Tiefflug. Wenig später knallt es laut. Der Swissair-Jet zerschellt um 3 Uhr 31 auf der Meeresoberfläche. Niemand überlebt.

Turboübernahmen statt Gedankenpause

Das schwerste Flugzeugunglück der Swissair schockierte die Welt. Doch in ihrer dunkelsten Stunde liefen die Airline-Verantwortlichen zur Höchstform auf. Wenige Stunden nach dem Absturz infomierte Konzernchef Philippe Bruggisser die Öffentlichkeit, es folgten im Stundentakt Aufdatierungen. Ein grosser Stab betreute die Angehörigen der Opfer, die von der Swissair unbürokratisch eine Soforthilfe über mehrere Tausend Franken erhielten.

So mitfühlend und betroffen die Swissair-Chefs reagierten, so eiskalt hielten sie an ihrem strategischen Kurs fest. CEO Bruggisser wich vom Anfang 1998 gefassten Entscheid unter dem Codewort «Hunter-Strategie» keinen Millimeter ab.

Nachdem er im Sommer eine erste Minderheitsbeteiligung an der italienischen Volare und darauf stufenweise ein 49-Prozent-Aktienpaket an der französischen Air Littoral erworben hatte, setzte Bruggisser nur fünf Wochen nach Halifax zum grossen Sprung an. Für gut eine Milliarde Deutsche Mark übernahm die SAirGroup, wie die Swissair-Muttergesellschaft damals hiess, knapp 50 Prozent an der deutschen Chartergesellschaft LTU. Vier Monate später kauften die Schweizer 49 Prozent der französischen AOM.

LTU und AOM wurden neben der 1995 gekauften belgischen Sabena zu den grössten Verlustbringern, die der Swissair im Herbst 2001 das Genick brechen sollten.

Für den Verwaltungsrat wurde Bruggisser zum unantastbaren Helden

Im Rückblick bleibt unverständlich, warum die Verantwortlichen mitten in der Bewältigung des Halifax-Unglücks weit reichende strategische Entscheide fällten, statt den Expansionsplan eine Zeitlang auf Eis zu legen.

Doch für den Zürcher Wirtschaftsjournalisten René Lüchinger, der mehrere Bücher zur Swissair publizierte (Der Fall der Swissair; Swissair – Mythos & Grounding), hat der Absturz von SR111 die rasche Expansion erst recht ermöglicht. «Klar hat Halifax nicht den geschäftlichen Niedergang der Swissair ausgelöst oder direkt beeinflusst, aber indirekt waren die Folgen gravierend», sagt Lüchinger im Gespräch mit 20 Minuten Online. «Denn das Unglück veränderte das Kräfteverhältnis an der Spitze des Unternehmens.»

Der Verwaltungsrat habe seine Kontrollfunktion nicht mehr richtig wahrgenommen, glaubt Lüchinger. «Bruggisser wurde durch seine eindrückliche Bewältigung des MD11-Absturzes zur unantastbaren Lichtgestalt. Als er dann an seinem Plan festhielt, die Swissair zur Riesen-Airline zu machen, hatte keiner im VR den Mut, ihm die Stirn zu bieten.» Laut Lüchinger habe nach Halifax «das Gegengewicht zum entfesselten Bruggisser» gefehlt.

Aviatikexperte sieht keinen Zusammenhang zwischen Unglück und Strategie

Hingegen unterscheidet Aviatikexperte und Buchautor Sepp Moser (Bruchlandung – Wie die Swissair zugrunde gerichtet wurde) haarscharf zwischen Halifax-Unglück und strategischer Weichenstellung in der unmittelbaren zeitlichen Folge. «Der Untergang der Swissair war ab 1991 zu befürchten, ab Mitte 1998 zu erwarten und ab Sommer 2000 unabwendbar», sagt Moser im Gespräch. «Halifax hat an diesem Lauf der Dinge nichts geändert.»

Die entscheidenden Fehler seien vorher passiert. «Der unselige Expansionskurs stand längst fest, als die MD11 ins Meer stürzte», sagt Moser. «Ohne Absturz hätte es vielleicht ein paar Retuschen gegeben, mehr kaum.» Schon vor Halifax habe die Swissair-Gruppe ihr einstiges Image als herausragende Qualitätsairline zum Teil verloren gehabt, glaubt der Aviatik-Journalist.

Für Ex-Kommunikationschefin war Halifax «Brandbeschleuniger»

In einem kürzlich erschienen Interview mit dem Tages-Anzeiger bekräftigte die damalige Kommunikationsverantwortliche der Swissair die These, dass der Absturz des Langstreckenjets vor der kanadischen Küste Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage des Unternehmens gehabt habe. Der Konzern sei drei Monate lang «blockiert» gewesen, sagte Beatrice Tschanz. «Ich glaube, dass das Unglück von Halifax beim Niedergang des Swissair-Konzerns wie ein Brandbeschleuniger wirkte.»


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