UBS oder Rechtsstaat – das ist die Frage

20minuten.ch (15. Juni 2010) – Wenn der Nationalrat kippt und den UBS-Staatsvertrag abnickt, bewahrt er die Grossbank vor neuem Ungemach. Dafür wirft er den Rechtsstaat über Bord – ein hoher Preis für eine ungewisse Zukunft.

Warum nach dem Ständerat endlich auch der Nationalrat den UBS-Staatsvertrag absegnen soll? Ganz einfach, meinen immer mehr Parlamentarier. Damit wir endlich Ruhe kriegen und wieder nach vorn statt in die düstere Vergangenheit blicken können.

Träumen sei erlaubt. Doch die Realität dürfte ungemütlicher werden. Mit dem sich abzeichnenden Ja in der grossen Kammer von heute wird die einst dicke Stahltür zum Bankgeheimnis vollends aufgesprengt. War die illegale Herausgabe von gut 250 US-Kundennamen vom 18. Februar 2009 der Mauerfall, ist die Offenlegung von knapp 4500 Steuerhinterziehern die Kapitulation. Damit übergeben die Helvetier ihre Trutzburg kampflos den ausländischen Angreifern.

Kapitulation mit Folgen

Was folgt, wenn ein Land seine Niederlage akzeptiert und mit seiner Unterschrift die Bedingungen der Siegermächte akzeptiert, ist in der Geschichte zur Genüge dokumentiert: Es kommt zu Reparationszahlungen, und zwar zu Bedingungen, die der Verliererin aufgezwungen wurden.

Im Fall des Bankgeheimnisses würde die Schweizer Legislative, also die gesetzgerberische Macht des Staates, ein Abkommen beschliessen, das aus Steuersündern Steuerbetrüger macht. Es geht nicht um eine Interpretation bestehender Steuerverträge zwischen der Schweiz und den USA, sondern um die Kriminalisierung eines bisherigen Gentleman’s Delikts.

Es ist das gute Recht jedes rechtmässigen Parlaments, mittels neuen Gesetzen die Regeln anders festzulegen. Problematisch wird es, wenn eines dem Ausland während Jahrzehnten gemachtes Versprechen gebrochen wird. Genau das aber soll nun passieren: Mit dem Staatsvertrag wird aus dem vermeintlich alpengranitfesten Schweizer Rechtsstaat eine erpressbare Republik.

Was ist wichtiger, die Bank oder das Land?

Es lohnt sich, die Wahl, welche die Nationalräte haben, nochmals genau unter die Lupe zu nehmen. Was steht zur Debatte? Im Kern nur dies: UBS oder Rechtsstaat. Sollen unsere gewählten Vertreter eine Bank vor einem Gerichtsprozess in den USA retten, oder sollen sie der Welt zeigen, dass die Schweizer Republik glaubwürdig und zuverlässig agiert? Wer mehr hineininterpretiert – drohende Klagen gegen weitere Banken oder andere Unternehmen beispielsweise – betreibt Spekulation.

UBS oder Rechtsstaat – das ist die Frage. Als die Schweiz mit ihrem Daten-«Notabwurf» vom 18. Februar 2009 die Bank rettete, herrschte bei vielen im Bund Verantwortlichen die Überzeugung vor, dass die UBS in Lebensgefahr schwebt. Der Sündenfall passierte also, weil die Entscheidungsträger vom Schlimmsten – einem Umfallen der Too-big-to-fail-UBS – ausgingen.

Heute präsentiert sich die Lage ganz anders. Die UBS wurde stabilisiert, sie hat mehr Eigenkapital als viele ausländische Grossbanken, und sie würde bei einem Nein des Parlaments zum Staatsvertrag nicht sofort vor einem Strafgericht landen, sondern müsste wohl lediglich zum Zivilprozess in Miami antraben. Dort erhielte sie mit ihrem «Amicus», der sie unterstützenden Eidgenossenschaft, einen fairen Prozess. Während nämlich die US-Anklagebehörden keine Beisshemmungen kennen, stehen die US-Richter im Ruf, unabhängige und faire Urteile zu fällen.

UBS hat genug Zeit für Worstcase-Planung

Würde die UBS den Erstprozess und auch die Rekursverhandlungen verlieren, könnte sie erneut vor einem Strafgericht landen. Dann, und nur dann, würde ihr ein Untergang drohen, weil viele Kunden rasch ihr Geld abziehen würden. Bis dahin könnten Jahre vergehen. Entsprechend könnte sich die Bank auf diesen schlimmsten anzunehmenden Fall vorbereiten.

Ihr stehen verschiedene Optionen zur Verfügung. Sie kann die Daten selbst herausgeben, was ihren Ruf als zuverlässige Bank zwar beschädigen würde. Allerdings ist die UBS in den Augen vieler Kunden schon heute die wahre Verantwortliche für die erzwungene Datenherausgabe.

Alternativ kann sich die Bank neu organisieren, sich in unabhängige Einheiten aufteilen und diese je nach Notwendigkeit verkaufen oder verselbstständigen. Als Nebeneffekt hätte die Schweiz das Klumpenrisiko von zwei für das kleine Land übertrieben grosse Finanzhäuser entschärft.

Oder die UBS findet mit ihren Lobbyisten in den USA einen Weg, sich mit einigen Milliarden freizukaufen. Dieser Weg blieb ihr bisher versperrt, weil die USA auf die Herausgabe von Namen pochten – vielleicht auch, weil sich die Schweiz vor ihre Bank hinstellte und damit den USA signalisierten, dass sie bereit war, einen Kapitulationsvertrag auszuhandeln.

Ein Ja öffnet die Schleusen für Angriffe auf den ganzen Finanzplatz

Geht die Schweiz den anderen Weg und beschliesst von sich aus die Datenherausgabe, öffnet sie Schleusen für viele weitere Mammut-Amtshilfegesuche. Aus US-Kreisen ist zu vernehmen, dass solche Auskunftsbegehren, bei denen keine konkreten Namen aufgelistet sind, gegen Kunden bei verschiedenen weiteren Schweizer Banken bereits bereitliegen. Auch die europäischen Nachbarstaaten dürften den UBS-Staatsvertrag als Musterabkommen betrachten, auf dessen Basis die Schweiz auch für ihre Steuerzahler Informationen liefern muss.

UBS oder Rechtsstaat – der Nationalrat entscheidet heute. Bei einem Ja befreit er die UBS vor weiterem Ungemach, ebnet aber gleichzeitig den Weg für eine Kriminalisierung von Zehntausenden von Steuerhinterziehern aus den USA und Europa. Sagt er hingegen Nein, muss die Grossbank für ihre Sünden selbst geradestehen. Was für weitere Angriffe dem Land und ihrem Finanzplatz dann drohen, weiss niemand.


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