„Der Tag, als um acht kein Licht war.“

Die europäische Klassemanagerin des Unternehmens Nobel Biocare ist in Ordnung

Wie gut sie aus Patschen helfen kann, erfuhr Heliane Canepa aus der Financial Times: Das Wirtschaftsblatt kürte sie zu einer der sechs wichtigsten Managerinnen Europas. Die Schweiz wusste schon vorher, wie top die Frau ist: 1995 und 1999 wurde sie Unternehmerin des Jahres.

Frau Canepa, wann sind Sie heute aufgestanden?

Um fünf Uhr. Ich muss täglich eine Stunde joggen. Wenn ich das nicht mache, fehlt mir die Konzentration für die vielen Sitzungen.

Seit wann joggen Sie?

Erst seit ein paar Jahren. Bis fünfzig habe ich über Sportler nur gelacht. «No sports», ganz nach Churchill. Wenn mein Mann, ein angefressener Fussballer, wieder mal verletzt nach Hause kam, sagte ich: Siehst du, Sport ist Mord. Dann, im Jahr 2000, wurde unsere Firma, die Schneider in Bülach, geschlossen, mein Lebenswerk brach ein. Dort hatte ich alles erlebt, in 20 Jahren die Firma von 5 auf 2400 Mitarbeiter aufgebaut. Das war ein schwerer Schlag, mein «Baby» war weg, verkauft für drei Milliarden Franken an meinen Konkurrenten, der dann den Betrieb in der Schweiz schloss. Da sagte ich mir: Jetzt darfst du nicht in Selbstmitleid zerfallen.

Weil Sie die Schliessung der Medizinaltechnikfirma Schneider unfair fanden?

Ich fragte mich schon, warum das ausgerechnet dieser fantastischen Firma und auch mir persönlich passieren musste. Der Verarbeitungsprozess brauchte Zeit. Und meinen Leuten in Bülach drohte ich: Wehe, wenn ihr jetzt zum Alkohol greift, das ist keine Lösung. Ich für mich suchte eine Aktivität, die ich ohne grossen Aufwand und Training tun konnte. So kam ich zu meinem ersten Laufband.

Nicht gleich raus in die Kälte.

Ich weiss noch genau, wie ich die Maschine auf superlangsam stellte. Nach wenigen Minuten war ich bereits kaputt, tot. Aber das Schöne beim Rennen ist, dass man auch als Anfänger rasch spürbare Fortschritte macht. Nach drei Wochen konnte ich eine halbe Stunde joggen, nach sechs Wochen konnte ich problemlos meine täglichen zehn Kilometer abstrampeln.

Nach dem Schliessungsentscheid bei Schneider wurden Sie berühmt als Managerin, die aus Krisen Chancen machte. Sie selbst halfen sich mit Rennen. Steht hinter der Strahlefrau eine andere, nachdenkliche Person?

Wenn nachdenklich von Nachdenken kommt, dann ja. Aber ich bin auch eine durch und durch optimistische Person und lasse mich nicht so leicht unterkriegen.

Keine Depression?

Nein. Mein Mann sagte mir zwar später, er habe sich anfänglich Sorgen um mich gemacht. Schliesslich hatte er die ganze Firmengeschichte auch aus nächster Nähe miterlebt. Aber ich redete mir meinen Frust laufend von der Seele. Er war ein geduldiger Zuhörer.

Sie suchten für alle Schneider-Mitarbeiter eine neue Anstellung. Nur Sie hatten anfänglich nichts. War das der Tiefpunkt?

Ich hatte von Beginn weg zahlreiche Angebote von sehr renommierten Unternehmen. Aber ich wollte das Schiff unter keinen Umständen verlassen. Ich hätte meine Mitarbeiter, mit denen ich schliesslich gemeinsam diese Firma aufgebaut hatte, unter keinen Umständen im Stich gelassen.

So wurden Sie zur Mutter Teresa der Schweizer Wirtschaft, hatten einen Auftritt in der «Arena» des Schweizer Fernsehens, wurden zur Unternehmerin des Jahres.

Einerseits macht es einen stolz, wenn das Umfeld Leistung anerkennt, andererseits war mir das auch etwas peinlich. Aber immerhin hat diese Publizität geholfen, Stellen für meine Mitarbeiter zu finden. Besonders glücklich war ich, dass wir sämtliche 14 Lehrlinge, die alle kurz vor dem Abschluss standen, innerhalb von wenigen Wochen anderweitig unterbrachten. Diesen Firmen bin ich bis heute noch dankbar.

Was passierte mit Ihnen, als Sie Ihr Bild in jeder Zeitung sahen?

Wenn man in der Öffentlichkeit steht, gefällt es den einen, den anderen weniger, und neu werden Dritte aufmerksam auf einen. Man ist nicht mehr so frei, wird oft erkannt und hofft, wieder in die Anonymität abtauchen zu können. Als ich später nach Schweden zu meiner neuen Firma Nobel ging, sagte ich zu meinem Mann: Jetzt kann ich mich wieder frei und unbemerkt bewegen. Allerdings nicht allzu lange, wie sich dann herausstellte.

Vorher machten Sie ein Jahr lang nichts. Wurde es Ihnen rasch langweilig?

Im Gegenteil. Es war ein Superjahr. Ich habe nicht nichts gemacht.

Einmal seien Sie zu Hause ausgeflippt, hört man. Sie hätten den Kochtopf auf die Platte geschmissen. Da habe Ihr Mann gesagt, Sie sollten wieder etwas Ernstes anpacken.

Das höre ich zum ersten Mal. Ausserdem ist das auch insofern unglaubwürdig, als ich doch schon seit zwanzig Jahren keinen Kochtopf mehr in den Händen gehalten habe. Die Wahrheit ist: Wider Erwarten gefiel es mir gut. Ich hatte Zeit für Soziales, betreute Asylkinder, unterrichtete ausländische Primarschüler in Deutsch, las Chronischkranken Geschichten vor, hielt Vorträge in der ganzen Schweiz. Ausserdem habe ich dann drei Verwaltungsratsmandate angenommen.

Sie schrieben auch ein Buch.

Ich habe begonnen, mein Leben und meine beruflichen Erlebnisse in Form von Kurzgeschichten festzuhalten. Das war sicherlich auch eine Form der konstruktiven Verarbeitung. Ich reflektierte: Was habe ich gut gemacht, was würde ich heute anders tun?

Wie lautet Ihr Urteil?

Ich bin in Ordnung.

Um das herauszufinden, mussten Sie ein Buch schreiben?

Nicht nur. Ich habe auch viele lustige Erlebnisse zu Papier gebracht.

Sie schrieben, taten Gutes, waren zufrieden. Und trotzdem sprangen Sie wieder auf einen Chefsessel, auf jenen des schwedisch-schweizerischen Medtech-Unternehmens Nobel Biocare.

Ich hatte das Gefühl, es brauchte mich, also konnte ich nicht nein sagen. Wie damals in Bülach; hätte sich jemand um meine Leute gekümmert, hätte ich mich nicht vorgedrängt. Die Situation in Schweden war ähnlich. Ich trat im Jahr 2000 dem Verwaltungsrat bei, nahm an den Sitzungen teil, erfüllte ein normales VR-Mandat. Bis das Management über Nacht davonlief. Da sprang ich in die Lücke.

Ihre Karriereplanung lautet: Helfen, wo’s nötig ist?

Nach Schneider wollte ich meine weitere berufliche Zukunft nicht konkret oder systematisch planen. Dort hatte ich alles erlebt ­ Aufbau, Wachstum, globale Produktion, Firmen übernehmen, einen sehr stolzen Gewinn erwirtschaften, Mitglied werden im Management von Pfizer [der US-Pharmakonzern hatte 1984 Schneider erworben, die Red.]. Das erzwungene Ende kam zu früh. Mit 51 hört man noch nicht auf, auch wenn ich gut damit zurechtkam. Bei Nobel packte mich dann nochmals das CEO-Fieber.

Alles Schicksal?

Nein. Wer sich beklagt, nie eine Chance erhalten zu haben, hat die sich bietenden Gelegenheiten möglicherweise nicht erkannt und somit verpasst. Göteborg war von der Ausgangslage her alles andere als ideal für mich. Was sollte ich dort, im dunklen hohen Norden; es gefiel mir doch zu Hause. “‘

Waren die Schweden kühl?

Die Begeisterung hielt sich in sehr engen Grenzen. Der Netteste war noch der Hotelportier. Jeden Sonntagabend, wenn ich aus Zürich anreiste, rief wenigstens er Welcome back. Bei Nobel grüsste mich kaum einer.

Typisch schwedisch?

Es sind distanzierte Leute, wie wir Schweizer. Ich wusste, ich musste ihnen Zeit lassen und sie langsam zum Erfolg führen. Dann würden auch sie Vertrauen zu mir fassen.

Wie gingen Sie vor?

Das Nobel-Schiff war im Schilf gelandet. Wie Schneider wies Nobel eine typische Pioniergeschichte auf. Man erfindet etwas mit einem Doktor zusammen, erobert die Welt, improvisiert, findet sich toll. Dann kommt Konkurrenz auf, die man anfänglich ignoriert. Schliesslich schleicht sich Arroganz ein. Und plötzlich ist man nur noch ein alter, satter und ehemaliger Pionier.

Warum wurden Sie nicht arrogant?

Das entspricht nicht meinem Charakter. Als ich zu Beginn jeweils um sechs Uhr in der Früh mit der Arbeit begann, war es noch dunkel in der Zentrale. Gut so, dachte ich, da kann man wenigstens in Ruhe arbeiten. Als um acht Uhr immer noch kein Licht brannte, dachte ich: So geht es nicht. Das war mir dann doch zu lange zu viel Ruhe.

Und dann?

Ich erkundigte mich nach der Arbeitszeit. Blockzeit. Also hob ich diese auf und verlangte längere und intensivere Präsenz. Natürlich trug mir das wenig Sympathie ein. Ich machte den Mitarbeitern aber klar, dass wir nur dann eine Chance hätten, wenn wir energisch und zielgerichtet Schritt für Schritt vorwärts gehen würden. Ich schlug nicht zwanzig neue Dinge vor, sondern fünf. Aber die wollte ich umsetzen. Ohne Kompromisse.

Welche?

Zum Beispiel musste jede Betriebsausgabe ab sofort von mir persönlich bewilligt werden. Eine kleine Veränderung mit grosser Wirkung. Schon als junge Schulpflegerin in einer Zürcher Gemeinde lernte ich, Geld so auszugeben, als ob es das eigene wäre. Ich fragte die Mitarbeiter: Würdet ihr zu Hause auch nach drei Jahren einen neuen Schreibtisch anschaffen? Würdet ihr ein neues Telefon kaufen? Nein? Warum dann in der Firma?

Das britische Wirtschaftsblatt Financial Times setzte Sie kürzlich auf Platz sechs unter Europas wichtigsten Managerinnen. Sie gehören jetzt zur Champions League.

Und?

Es kann Ihnen zu Kopf steigen.

Ich bin 57, da steigt einem gar nichts mehr zu Kopf. Das ist einer der Vorteile des Alters. Wenn meine Leute in Panik auszubrechen drohen, bleibe ich meist ruhig. Ich weiss aus Erfahrung, dass wir schon irgendwie aus der Patsche kommen.

Ranglisten für Geschäftsfrauen seien Humbug, sagten Sie mal.

1995 wurde ich Unternehmerin des Jahres [in der Kategorie Frauen, die Red.]. Damals sagte ich, dass Unternehmer nach ihrer Leistung, nicht nach ihrem Geschlecht beurteilt werden müssen. Deshalb stand ich einem geschlechtergetrennten Ranking skeptisch gegenüber. Inzwischen habe ich meine Meinung etwas revidiert.

Es braucht solche Rankings, bis mehr Frauen im Topmanagement vertreten sind?

Offenbar. Den Frauen fehlt es ja weder an Bildung noch an der Führungsqualität. Sie haben einfach eine Wahl zwischen Beruf und Familie, die der Mann in aller Regel nicht hat. Er muss Karriere machen, wenn er Anerkennung und Unabhängigkeit will. Nicht selten habe ich Frauen einen Karrieresprung offeriert, den sie oft ablehnten.

Ein Mann hätte nicht gezögert?

Keine Sekunde. Die Frauen werden erst dann Karriere machen, wenn sie dies wirklich wollen. Viele denken auch, dass beruflicher Erfolg einfach geschenkt würde, dass man als Frau einen verbrieften Anspruch darauf hätte. Mir hat noch nie jemand einfach Erfolg geschenkt.

Sie wollten nie Mutter werden?

Ich bin die Zweite von fünf Geschwistern. Mein Vater war Lehrer und Bürgermeister in Österreich, meine Mutter Hausfrau. Obwohl sie mich mit ihrer übertriebenen Fürsorge oft auch nervte, war es gut, dass sie zu Hause war. Wenn man den Kindern alles geben möchte, ist der Beruf Mutter ein Ganztagesjob, zumindest für eine gewisse Zeit. Das wollte ich mir nicht antun.

Weil Sie mehr erleben wollten?

Weil ich etwas bewegen, etwas aus mir machen wollte. Weil ich mich für viele Dinge interessierte und mich nicht in eine Abhängigkeit drängen lassen wollte.

Wussten Sie schon mit zwanzig, dass Sie eines Tages CEO sein möchten?

Ich wusste nicht einmal, was das ist. Dafür merkte ich früh, wie mühsam es ist, sich in einer Grossfirma hochzustrampeln oder das Dasein einer fleissigen Assistentin zu ertragen. Wenn das so funktioniert, dachte ich, muss ich mich halt selbständig machen oder eine eigene Firma gründen.

Heliane Canepa, 57, führt den schwedisch-schweizerischen Zahnimplantatehersteller Nobel Biocare. In den Jahren 1995 und 1999 wurde sie zur Unternehmerin des Jahres gewählt.


Einen Kommentar schreiben