Hans-Jörg Rudloff: „Der Motor ist tot“

Hans-Jörg Rudloff, VR-Präsident der Investmentbank Barclays Capital und VR-Mitglied beim Pharmakonzern Novartis, sieht völlige neue Massstäbe im Finanzsystem. „Das Vertrauen in grosse Bankennamen ist weg“, sagt er im Interview mit der „Handelszeitung“. (17. September 2008)

Herr Rudloff, warum wurde die Investmentbank Lehman Brothers fallen gelassen?

Hans-Jörg Rudloff: Auf Details der gescheiterten Rettungsaktion kann ich nicht eingehen. Klar ist: Im grossen Buch der Finanzmärkte haben wir jetzt ein entscheidendes Kapitel geschlossen.

Welches?

Rudloff: Jenes, dass wir uns in den wichtigsten Finanzmärkten einig waren, nie eine grosse Gegenpartei Bankrott gehen zu lassen.

Was sind die Folgen?

Rudloff: Völlig neue Massstäbe im Finanzsystem. Das generelle Vertrauen in grosse Bankennamen ist weg, das Risiko jeder Gegenpartei rückt in den Vordergrund. Es drängt sich eine Metapher auf: Der Motor des Finanzsystems ist kaputt, er muss vollständig überholt werden.

Einige Experten sagen, gut am Untergang von Lehman und dem Verschwinden von Merrill Lynch sei, dass die Investoren endlich wüssten, dass keine Bank unsinkbar sei.

Rudloff: Gut ist an dieser Krise gar nichts. Ein System, das nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs über Jahrzehnte gewachsen ist, das den freien Kapitalverkehr über Landes- und Kontinentsgrenzen hinweg ermöglicht hat, ist zerbrochen. In nur zwölf Monaten hat die Kreditkrise unendlich viel an Goodwill, an Technologie und an Vertrauen zerstört.

Wer ist Schuld am Debakel?

Rudloff: Alle müssen sich an der eigenen Nase nehmen. Wir in der Finanzindustrie haben das Geschäft übertrieben, die Regulatoren waren nachlässig. Nur ein kleines Beispiel: Noch letzte Woche warb Lehman Brothers für ein kapitalgarantiertes Zertifikat, zu einem Zeitpunkt, als die Bank überall als nächstes Opfer der Krise gehandelt wurde. So ein Produkt zu so einem Zeitpunkt dem breiten Publikum anzubieten, das ist heute einfach nicht mehr tragbar.

Die Notenbanken reagieren wie gewohnt, sie öffnen einmal mehr die Geldschleusen, und zehn globale Bankkonzerne gründen einen Hilfsfonds über 70 Milliarden Dollar für allfällige Liquiditätsengpässe. Sehen Sie Chancen einer Beruhigung?

Rudloff: Es geht längst nicht mehr um Liquidität, denn davon hat es genug im Markt. Jetzt stellt sich die Kreditfrage. Wer leiht wem noch Geld, wer betrachtet wen noch als vertrauenswürdig? Wir stehen vor einer Zeit, in der alle Investoren auf die Kreditbremse stehen. Der Motor ist tot.

Wie könnte ein neuer aussehen?

Rudloff: Einfacher, klarer, besser reguliert, besser überwacht.

Wie lange dauert es, bis er funktioniert?

Rudloff: Das weiss niemand. Und ebenso unklar ist, wie viele Opfer es bis dahin noch geben wird.

Welche Folgen erwarten Sie für die Schweizer Grossbanken UBS und CS?

Rudloff: Wie viele andere Banken sitzen auch sie auf Altlasten, die sie nicht wegzaubern können. Jede global tätige Bank muss nun selbst ihre Bilanz in Ordnung bringen und das Vertrauen wieder herstellen, das teilweise verloren gegangen ist.

Noch bevor die UBS ihre ersten Milliardenverluste bekannt gab, sprachen Sie von der grössten Krise des Kreditsystems. Hatten Sie schon damals das heutige Ausmass erwartet?

Rudloff: Vieles stellte ich mir vor. Was ich nie erwartet hätte und was mich und alle anderen im Markt völlig überrascht hat ist, dass eine grosse Gegenpartie wie Lehman Brothers vom Staat fallen gelassen würde. 600 Milliarden Dollar Aktiva müssen jetzt zwangsliquidiert werden. Das war unvorstellbar.

Vielleicht war dies das Problem: Alle Banken und Investoren rechneten mit dem Staat als letzten Rettungsanker. Das verzerrte die Anreize.

Rudloff: Es geht doch nicht um das Kalkül von Investoren, sondern um pure Rationalität. Wenn die Märkte einbrechen, ist es am Staat, die Ordnung aufrecht zu erhalten und die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass eine allumfassende Vertrauenskrise verhindert wird. Die Schuldfrage und die Suche nach Lösungen stellen sich erst später. Einen Raser lassen Sie nach einem Selbstunfall auch nicht auf offener Strasse verbluten. Zuerst Rettung, dann Bestrafung, so war das im Finanzmarkt gedacht.

Den Banken und Privat-Investoren die Gewinne, dem Staat die Verluste. Was ist falsch daran, wenn dies nun zu Ende geht?

Rudloff: Das Eingreifen des Staates dient nicht dazu, Bankaktionäre zu schützen, sondern ordentliche Marktbedingungen aufrecht zu erhalten. Das ist sein oberstes Primat, um gewaltige Schäden wie in der grossen Wirtschaftskrise von 1929 zu verhindern.


Einen Kommentar schreiben