Schweizer staunen über Swissair-Freisprüche

Damit hatten die Angeklagten selbst nicht gerechnet: Im Jahrhundertprozess gegen die Verantwortlichen der untergegangenen Swissair sprach ein Gericht alle 19 Angeklagten frei. Sie erhalten obendrein Entschädigungen in Millionenhöhe.

Zürich/Bülach – Mit einer Minute Verspätung eröffnet Gerichtspräsident Andreas Fischer um 9.01 Uhr die lang erwartete Urteilsverkündung. Im großen, zur Gerichtsarena umgebauten Stadtsaal des Provinzstädtchens Bülach, nicht weit vom Zürcher Flughafen, herrscht Totenstille.

Kerzengerade sitzen die Angeklagten, die allesamt einst zur Wirtschaftselite der Alpenrepublik gehörten, mitsamt ihren teuren Staranwälten auf harten Holzstühlen und erwarten das Urteil, das über sie gesprochen werden soll.

Dann, nur zwei Minuten später, folgt jener kurze Satz, der dieses fünf Jahre dauernde Mammutverfahren innerhalb von Sekunden beendet. Der Hauptangeklagte Mario Corti, der als letzter Kapitän am Steuer der gescheiterten Luftfahrtgesellschaft saß, wird „vollumfänglich frei“ gesprochen.

Was folgt, ist allen klar: Auch die übrigen 18 mit Gefängnis und hohen Geldbußen bedrohten Manager dürften als freie Bürger davon ziehen. Als kleines Geschenk gibt’s obendrauf mehrere Millionen Franken Entschädigung für erlittene Unbill. Allein Corti bekommt umgerechnet 300.000 Euro für die durch den Prozess entstandenen Nachteile. Insgesamt erhalten die Freigesprochenen rund 1,8 Millionen Euro.

War da was? Eine verdutzte Schweizer Öffentlichkeit reibt sich die Augen. Da zerren Journalisten, Ermittler und Zivilkläger über Jahre jedes Detail der traurigen Unternehmensgeschichte ans Licht, Dokumentar- und Spielfilme zum Ende dieses nationalen Heiligtums werden gedreht, unzählige Bücher verfasst, Tausende von Artikel geschrieben. Kein anderes Wirtschaftsthema hält die Bevölkerung derart in Atem. Die Schweizer haben durch das Aus der einstigen Staatsairline einen kollektiven Schock erlitten und stempelten die Swissair-Verantwortlichen zu Versagern, denen hohe Strafen gebühren.

„Führung eines Großkonzerns keine exakte Wissenschaft“

Und nun das: Freispruch auf der ganzen Linie – und Katerstimmung bei den Eidgenossen. Selbst die Angeklagten geben zu, dass sie mit diesem Ausgang nicht gerechnet haben. Corti, der während der siebenwöchigen Verhandlung mit rhetorischer Brillanz die Anklage in Grund und Boden gestampft hatte und nun die Urteilsverkündung von seinem neuen Wohnort Boston in den USA aus verfolgte, habe den heutigen Tag mit gemischten Gefühlen erwartet, sagt sein Sprecher.

Die Swissair war einst eine der größten Fluggesellschaften in Europa und galt als Symbol für Schweizer Zuverlässigkeit. Nach der Privatisierung in den achtziger Jahren wurden die Titel der Swissair zu einer Volksaktie. Auch viele ältere Sparer investierten in das Unternehmen – und verloren durch den Bankrott ihre Altersvorsorge. Einige Gläubiger und Anleger versuchen derzeit, auf gerichtlichem Wege ihr Geld zurückzuerstreiten.

Die Swissair hatte in den Jahren vor dem Zusammenbruch neue Airlines im Ausland übernommen. 2001 teilte das Unternehmen dann plötzlich mit, dass es auf einem Schuldenberg von umgerechnet rund elf Milliarden Euro sitze. Die Airline schlitterte binnen weniger Monate in den Bankrott, im Oktober 2001 mussten die Flugzeuge mit dem weißen Kreuz am roten Leitwerk am Boden bleiben. Tausende Mitarbeiter verloren ihren Job.

Die Fluggesellschaft verlor nach der Pleite große Teile ihrer Vermögenswerte. Der Rest der Firma wurde mit regionalen Airlines verschmolzen. Die daraus entstandene Fluggesellschaft Swiss hat noch rund 5500 Mitarbeiter, ein Drittel der einstigen Swissair- Belegschaft. Seit 2002 gehört die Swiss zur Lufthansa.

Und für Corti-Vorgänger Eric Honegger, der Sohn eines ehemaligen Mitglieds der Landesregierung ist und einst selbst ein erfolgreicher Finanzminister seines Kantons Zürich war, sei der Ausgang des Prozesses „ein großes Fragezeichen“ gewesen.

Wer allerdings glaubt, die Richter wollen die frühere Crème de la Crème der Schweizer Unternehmenslandschaft schonen, täuscht sich. Das Gericht von Bülach unterscheidet konsequent zwischen theoretischer Nachbetrachtung und effektiver Entscheidungsfindung im Moment.

Die Führung eines Großkonzerns, so die Richter, sei keine exakte Wissenschaft. Eine einzelne Handlung in einer Tochtergesellschaft könne nicht für sich alleine auf den juristischen Prüfstand gestellt werden, um die Frage zu beantworten, ob sich die Verantwortlichen strafbar gemacht haben. Die Swissair-Verantwortlichen sind gemäß Urteil kein unverhältnismäßiges Risiko eingegangen, sondern haben vernünftige Lösungen gesucht, um das drohende Unheil zu verhindern.

Für die Anklagebehörde bedeutet die Entscheidung des Gerichts eine Blamage. Ein mit zusätzlichem Personal verstärktes Team der Zürcher Staatsanwaltschaft sammelte Akten, die 4000 Ordner füllen, führte Hunderte von Gesprächen und gab Millionen für externe Expertisen aus. Ihre Forderung: Bußgelder von bis zu 620.000 Euro und Haft ohne Bewährung für Corti. Am Ende brachte sie keinen einzigen Schuldspruch zustande, nicht einmal in Nebenpunkten konnte die Anklagebehörde die Richter von einer Schuld der Swissair-Manager überzeugen.

Zivilprozesse sind noch nicht ausgestanden

Nun haben die gedemütigten Staatsanwälte zehn Tage Zeit, in Berufung zu gehen. Nach dem unmissverständlichen Befund des Gerichts in entscheidenden Punkten ist aber fraglich, ob sich die Ankläger vom Gang zur nächsten Instanz einen Erfolg versprechen.

Auch wenn es zu keinem weiteren Prozess kommt, die Vergangenheit ist für die Freigesprochenen noch lange nicht ausgestanden. Mehrere zivile Prozesse sind bereits im Gang. Diese finden zwar unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt und bedeuten daher für die Angeklagten einen deutlich geringeren psychischen Stress. Dafür geht es aber um viel Geld.

Dem Zement-Unternehmer Thomas Schmidheiny zum Beispiel, ehemals Vizepräsident der Swissair, droht, den Gläubigern Milliarden bezahlen zu müssen. Schmidheiny, der das heutige Urteil als „Meilenstein“ bezeichnet, will jetzt mit „ganzer Energie“ den Zivilprozess vorbereiten.


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