Auf den Spuren Toyotas

Der japanische Autohersteller ist das neue Vorbild der Swiss. Die Schweizer Airline setzt auf die Kaizen-Methode, um rascher und günstiger zu wirtschaften.

Shuichi Kurosaka ist nicht sehr gross, 1 Meter 60 vielleicht. Doch sobald er vor Leuten steht, wächst der Mann über sich hinaus. Anzug und Turnschuhe pechschwarz, das krawattenlose Hemd strahlend weiss und bis oben zugeknöpft, erinnert der Japaner an einen begnadeten Strassenzauberer. Nur der Zylinder fehlt, dafür trägt der 52-Jährige eine dunkle Hornbrille.

Kurosakas Hände hüpfen wieselflink eine Packpapierwand auf und ab, zeigen auf chaotisch verteilte Zettelchen, dann breitet er die Arme aus, als würde er Bälle jonglieren, stellt sich vors Publikum und dehnt den Rücken in tiefer Verbeugung. Dazu rattert der Tausendsassa im Stakkato Sätze herunter wie: «Dann denken Sie, das ist normal so!» und «Aber es gibt kein gemeinsames Verständnis!» Während Kurosaka die Zuschauer fixiert, hechelt der Übersetzer atemlos hinterher. Schliesslich poltert der kleine Japaner: «Zuletzt heisst es, dass halt die speziellen Kundenwünsche schuld seien!»

Freitagmorgen, 8 Uhr, Kaizen-Workshop bei der Schweizer Airline. Es ist Anfang Juli, draussen regnet es, und drinnen im Schulungsraum am neuen Swiss-Hauptsitz in Kloten ZH sitzen 20 Angestellte des Frachtbereichs im Halbkreis und lauschen mit einer Mischung aus Befremden und Faszination den Ausführungen dieses ungewöhnlichen Referenten. Seit Montag grübelt die Gruppe unter Kurosakas Führung über Sinn und Unsinn ihres täglichen Arbeitens. «Takt-Zeit!», ruft der Japaner laut in die Runde und stemmt die kleinen Fäuste in die Hüfte. «Wir haben immer noch keine Takt-Zeit für unseren Prozess!» Betretenes Schweigen im Saal. Offenbar ist nach einer Woche gemeinsamer Anstrengung etwas Wichtiges noch immer nicht im Lot.

Die Teilnehmer des Workshops sind zwischen 30 und 60 Jahre alt, gleich viele Frauen wie Männer, Schweizer und Ausländer. Wie im Passagiergeschäft versucht die Swiss auch im Frachtgeschäft ihr Glück mit einer Premium-Nischenstrategie. Viele kleine, dafür umso teurere Güter wie Schmuck und Pharmazeutika werden möglichst schnell und zuverlässig um den Globus geflogen. Weil Tempo das A und O dieses Business ist, sind effiziente Prozesse matchentscheidend.

Ein klassischer Fall für Kaizen. Hinter dem Wort mit dem sanft klingenden

Namen verbirgt sich eine messerscharfe betriebswirtschaftliche Methode aus dem Land der aufgehenden Sonne. Kaizen soll die Arbeitsabläufe beschleunigen und sie dadurch kostengünstiger machen, ohne dass die Qualität leidet. Seit anderthalb Jahren schickt die Swiss-Geschäftsleitung ihre Kaizen-Spezialisten von Abteilung zu Abteilung, um brachliegendes Potenzial auszuschöpfen. Nachdem die Firma zuvor mit schmerzlichen Schnitten hat saniert werden müssen, lautet das Ziel nun, das rasante Wachstum ohne Kostenexplosion zu meistern. Denn in der Branche wird noch lange gelten: Die Konkurrenz ist hart, der Preisdruck hoch.

Die ersten Kaizen-Resultate lassen sich sehen. Beispielsweise konnte die Zeit, die es braucht, einen Langstreckenflieger nach der Landung wieder startklar zu machen, massiv gesenkt werden. Früher dauerte es 97 Minuten, bis die Passagiere ausgestiegen, die Kabine gereinigt und die neuen Gäste samt Gepäck und Verpflegung an Bord waren. Dann nahmen die Swiss-Mitarbeiter jeden Handgriff und jede Entscheidung unter die Lupe, stoppten mit dem Chronometer die Zeit für die einzelnen Prozesse, eliminierten Doppelspurigkeiten und Engpässe und fanden Methoden zur schnelleren Ladung von Essen, Gepäck und Passagieren. Nun benötigt der gesamte Aus- und Einladevorgang gerade noch 65 Minuten, ein Drittel weniger als zuvor.

Solche Quantensprünge sind die Spezialität von Kurosaka, Europa-Chef des auf Kaizen spezialisierten japanischen Beratungsbüros Shingijutsu, für das Swiss ein wichtiger Auftraggeber geworden ist. Wenn man ihn fragt, was Kaizen bedeutet, zaubert er einen Pinsel aus seiner Aktentasche hervor und malt in langsamen Schwüngen zwei japanische Zeichen auf eine

Pinnwand. Das linke bedeutet Kai oder Wandel, das rechte Zen oder Mensch. Unter Kaizen verstehe man demnach die Technik, welche die Menschen zum Denken anrege mit dem Ziel, sich selbst und ihr Umfeld zu verbessern. Es gehe nicht in erster Linie ums Geldverdienen, sondern um Veränderungen. «Dann folgt der Gewinn automatisch. Wie bei Toyota.»

Der japanische Autohersteller gilt als Schulbeispiel für den Erfolg von Kaizen. In den fünfziger Jahren geriet der Konzern in eine Krise, und weil das Gesetz damals Massenentlassungen verbot, hatte Toyota plötzlich viel zu viele Leute auf ihrer Lohnliste. Doch statt sie in die Zwangsferien zu schicken, offerierte die Firma den Mitarbeitern permanente Weiterbildung, wo diese Mittel und Wege fanden, Autos effizienter und günstiger zu produzieren. Der Erfolg war durchschlagend, sodass die Methode der ständigen Verbesserung unter dem Namen Kaizen zum fixen Programm bei Toyota wurde. In den folgenden Jahrzehnten erlebte die Autowelt Toyotas sagenhaften Aufstieg zum Weltmarktführer. Heute rollt alle 70 Sekunden ein neuer Wagen von den Fliessbändern der Japaner, womit sie vor wenigen Monaten General Motors als Nummer eins verdrängten.

Für Edi Gaiser ist die Toyota-Geschichte nicht neu. Im Workshop hat er sie schon ein paarmal gehört. Leider kann die Erfolgsstory an seiner nachdenklichen Stimmung nichts ändern. Der 60-Jährige ist Teamleiter und führt drei Mitarbeiter, die sich um einen Teil der Frachtadministration kümmern. Sein halbes Leben hat der Mann mit dem Gentleman-Schnauz und der goldgerahmten Brille in den Reihen der Schweizer Airline verbracht, anfänglich für die Swissair, ab 2002 für die Swiss. In seinem dezenten dunkelblauen Anzug wirkt Gaiser wie ein Verschnitt aus Zürcher Privatbankier und SBB-Kondukteur. Nun muss er Federn lassen. Denn Messungen während des Workshops förderten zutage, dass der Arbeitsort eines seiner Kollegen ins Frachtgebäude am Flughafen und nicht in die Zentrale gehört. In der Manier eines abgebrühten Langzeitangestellten kommentiert der Teamleiter in Beraterdeutsch: «Changes are here to stay in business.» Die leise Stimme will nicht so recht zur optimistischen Botschaft passen.

Aber so ist halt Kaizen: Die Zeit wird gemessen, der Prozess hinterfragt, eine wirkungsvolle Lösung gesucht. Im Unterschied zu anderen Methoden gibt es hier keine eindrucksvollen Präsentationen

mit Powerpoint, keine farbigen Flussdiagramme und keine endlosen Theoriediskussionen. Kaizen trimmt die Kursteilnehmer auf einfaches und schnelles Zupacken. Ärmel hochkrempeln, umsetzen ­ in der Flugzeugkabine, im Büro, in der Frachthalle.

Oberster Kaizen-Verantwortlicher der Swiss ist ein Mann, der in seinem Nadelstreifenanzug und den eleganten braunen Lederschuhen nicht unbedingt dem Bild des zupackenden Vorarbeiters entspricht. Doch Thomas Brandt hat auch eine andere Aufgabe. Der 43-Jährige muss jene Bereiche im 6000-Personen-Betrieb ausfindig machen, die das grösste Potenzial für Verbesserungen aufweisen. Mit seinem Schlachtruf «Du kannst kein Kaizen machen, wenn du kein klares Ziel hast» macht er den Workshop-Teilnehmern klar, dass sie nicht in einem gefühlsduseligen Seminar gelandet sind. Hier geht es am Ende des Tages einzig um die Erreichung von messbaren Vorgaben.

Nehmen wir den Check-in-Prozess, in dem die Passagiere ihr Gepäck aufgeben und ihre Einstiegskarte fürs Flugzeug erhalten. Auch hier wollte das Swiss-Management die Zeit, die ein Angestellter pro Passagier benötigt, um ein Drittel senken. Obwohl diese Tätigkeit bereits unzählige Male unter die Lupe genommen wurde, gelang das Vorhaben. Seit der letzten Analyse hatten sich die Vorschriften verschärft, das Personal musste zusätzliche Daten von US-Passagieren erfassen, und das führte zu langen Wartezeiten für die übrigen Passagiere. Dank einer Kaizen-Lösung legen Reisende in die Vereinigten Staaten nun eine Extraschlaufe zu einem neuen Schalter ein, wo sie die nötigen Auskünfte erteilen, bevor sie sich wieder in die normale Warteschlange einfädeln. So fliesst der Prozess stetig und ohne unliebsame Verzögerung.

Was ist das entscheidende Erfolgsgeheimnis von Kaizen? «Gemba», sagt Projektleiter Brandt, ohne zu zögern, was übersetzt «Ort des Geschehens» bedeute. Sei es beim Bereitmachen des Langstreckenflugzeugs oder bei der Check-in-Beschleunigung ­ immer nehmen die Projektmitarbeiter Bleistift und Block zur Hand und prüfen die Situation vor Ort. Sie unterteilen den ganzen Prozess in verschiedene Tätigkeiten, messen und hinterfragen diese. Wozu ist das gut? Warum dauert etwas so lange? Was hat der Kunde von diesem Aufwand? Solche Fragen bespricht die Gruppe und sucht Lösungen, die ohne langes Diskutieren ausprobiert und im Erfolgsfall gleich implementiert werden. Unbürokratisch, autonom oder eben: am Gemba, am Ort des Geschehens.

 

Christoph Franz, CEO Swiss

«Kaizen-Lösungen sind intelligenter»

BILANZ: Herr Franz, Kaizen heisst ständige Verbesserung. Was haben Sie diese Woche bei sich verbessert?

Christoph Franz: Diese Woche noch nichts. In der Geschäftsleitung konnten wir aber zum Beispiel schon früher die Sitzungsdauer verkürzen. Kaizen funktioniert hauptsächlich bei standardisierten Arbeitsabläufen.

Wie kamen Sie auf Kaizen?

__ Nach dem Verkauf an die Lufthansa und einer erfolgreich abgeschlossenen Restrukturierung spürten wir Aufwind, bauten die Flotte aus, schlossen neue Arbeitsverträge ab. Was jetzt?, fragten wir uns. Unser Ex-CFO, Ulrik Svensson, erzählte von seinen Kaizen-Erfahrungen. Ich fand das Konzept interessant.

Wo kommt Kaizen zum Einsatz?

__ Überall. Es geht um stetige Verbesserungen, die auch tiefere Stückkosten zur Folge haben können ­ also weniger Aufwand pro produzierte Einheit wie einen Flug, eine Wartung oder eine Verbuchung. Kaizen stammt aus der Produktionsindustrie. Wir nutzen die Methode nun für den Dienstleistungsbereich.

Swiss ist Kaizen-Pionierin?

__ Eine andere Airline machte bereits erste Gehversuche. Wir gehen weiter und wollen dank Kaizen langfristig zu neuen, effizienteren Prozessen quer durchs Unternehmen gelangen.

Das Programm läuft seit 2006. Warum sprechen Sie erst jetzt öffentlich darüber?

__ Kaizen ist nicht mit den üblichen Effizienzprogrammen vergleichbar, bei denen ein Betrieb in sechs Monaten heuschreckenähnlich abgegrast wird. Es ist ein Veränderungsprozess, der sowohl klar Messbares als auch eine neue Kultur bringen soll.

Vor allem Ersteres: tiefere Kosten dank höherem Durchlauf.

__ Kaizen ist kein Sklaventreiberprogramm, bei dem die Mitarbeiter von

50 auf 100 hochgejagt werden. Die Vereinfachung und die Straffung von Prozessen stehen im Zentrum.

Hatten die Mitarbeiter Angst, Leerläufe zu melden und zu stoppen?

__ Kostensenkungen zwingen zur Kreativität. Nach dem Abbau hatten wir für den vorgesehenen Serviceablauf zu wenig Leute in der Kabine. Mit zusätzlichem Personal hätten wir das Problem erschlagen. Wir führten Kaizen ein und merkten, dass zum Beispiel ein gebrauchsfertiger Trolley an Bord die Arbeit der Kabinencrew wesentlich erleichtert. So entstand unser Ready-to-go-Trolley für Kurzflüge. Zwar steigerte das unsere Kosten beim Lieferanten, führte aber zur Verbesserung des Serviceablaufs bei gleichbleibender personeller Besetzung und gleichbleibender Servicequalität. Insgesamt wurde so die Produktivität gesteigert.

Also doch: Kaizen soll primär Kosten senken.

__ Im Hochlohnland Schweiz in einer umkämpften Branche können Sie nicht einfach Leute à gogo anstellen, um Marktanteile gegen die Konkurrenz zu gewinnen. Dazu braucht es intelligentere Lösungen. Kaizen-Lösungen eben.

Was sagt die Lufthansa mit ihrer deutschen Ingenieur-Kultur zur japanischen Kaizen-Philosophie?

__ «Steal with pride» statt «not invented here» lautet mein Motto. Kürzlich nahm ein Lufthansa-Produktchef an einem Kaizen-Workshop teil, um frischen Input zu erhalten. Heute gewinnt, wer eine gute Idee am schnellsten im Markt einführt.


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