Aus allen Wolken

Die Ermittlungen gegen den früheren Swissair-CEO Philippe Bruggisser sind fast abgeschlossen, Ende Dezember könnte Anklage gegen ihn erhoben werden. Dennoch trauern ihm ehemalige Kaderkollegen nach. Was ist dran an dem Mann, der der Schweiz die Flügel brach?

Vor einem Monat, an einem Sonntag Ende September, stellte sich Philippe Bruggisser für den Flug Zürich­Madrid in die Warteschlange vor dem Check-in-Schalter der Billig-Airline Helvetic. Einziges Gepäckstück: eine Aktentasche.

Der 56-Jährige sah immer noch aus wie vor vier Jahren, als der Chef des Schweizer Luftfahrtkonzerns Swissair mit seinen 70000 Angestellten täglich in den Medien erschien: hager, auf der Nase ein klassisches, rechteckiges Brillenmodell mit Alurahmen, der linke Mundwinkel beim Reden leicht nach oben gezogen. Mit seinen zwei Metern überragte er alle umstehenden Leute. Bruggisser trug eine dunkelgrüne Windjacke, darunter ein blaues Jackett und dunkle Hosen. Bis heute scheint er wenig Wert auf Eleganz zu legen.

Niemand sprach Bruggisser an; selbst der Helvetic-Angestellte, der mit einem schüchternen Lächeln zu verstehen gab, dass er den berühmten Gast erkannt hatte, verkniff sich eine Bemerkung.

Ich war damals zufällig ebenfalls am Flughafen. Und da ich gerade mit der Recherche für ein Porträt über Philippe Bruggisser begonnen hatte, nutzte ich die Gelegenheit und sprach ihn an. Von früher kannten wir uns flüchtig. «Wie geht es Ihnen?» ­ «Gut», antwortete Bruggisser knapp. Er drückte meine Hand derart stark, dass ich einen Moment lang den Faden verlor. Ob er bereit wäre für ein Gespräch über sein Scheitern als Swissair-Chef und sein heutiges Leben als Ausgestossener. Ohne lange zu überlegen, lehnte Bruggisser ab und fügte an, dass ich einen solchen Artikel gar nicht schreiben dürfe. «Was ich für ein Mensch bin, geht niemanden etwas an», herrschte er mich mit seinem unverkennbaren Bariton an.

Vom Popstar zum Loser

Fünf Jahre leitete Philippe Bruggisser die Swissair-Gruppe ­ und führte den Konzern an den Rand des Abgrunds. 14 Monate nach seiner Entlassung war die Firma am Ende. Ihr Untergang vernichtete Milliarden von Franken und Tausende von Arbeitsplätzen. Gegen die Verantwortlichen wird strafrechtlich ermittelt, Ende Jahr sind erste Anklagen zu erwarten.

Wie geht jener Manager, der einst gefeiert wurde wie ein Popstar und heute bei den meisten abgeschrieben ist und ein Justizverfahren am Hals hat, mit seiner Niederlage um? Und: Lässt sich aus der zeitlichen Distanz besser erklären, wieso ein intelligenter Kopf wie Bruggisser derart grandios gescheitert ist?

Die Spurensuche beginnt am Sonnenhang des aargauischen Städtchens Wohlen bei Bremgarten, in einem Wohnquartier mit Einfamilienhäusern. Bruggissers Haus ist das grösste der Umgebung. Ohne protzig zu wirken, überragt es die Nachbarliegenschaften, in denen seine zwei jüngeren Geschwister leben.

Schaut man hinter den grünen Briefkasten ohne Namensschild, blickt man in einen gepflegten Garten. Ein Nachbar erzählt, dass Bruggisser einen kleinen Swimmingpool besitze. Dem Haus vorgelagert ist ein gläserner Anbau, in dem der ehemalige Airline-Chef auf einer Fläche von vierzig Quadratmetern eine Modelleisenbahnanlage aufbaut. Das berichtet Fritz Grotz, ehemaliges Geschäftsleitungsmitglied der Crossair und heute Teil des Teams, das die Swissair-Gruppe liquidiert.

Bruggisser sei stolzer Besitzer einer Spur-0-Bahn mit 32 Millimeter Schienenbreite. «Mal sagte er mir, er habe zwei linke Hände und benötige Unterstützung. Darauf besichtigten wir verschiedene Modelleisenbahnanlagen in der Umgebung. Als sich Bruggisser bei der berühmten Dampfbahn in Birr an den Regler setzte, freute er sich wie ein Kind.»

Die meiste Zeit verbringt Bruggisser jedoch mit seinem Strafverfahren und dem drohenden Prozess. Nebenbei soll er Pläne für eine neue Airline schmieden, Genaueres ist unbekannt. Ende 2004 will der Zürcher Bezirksanwalt Hanspeter Hirt entscheiden, gegen wen er Anklage erhebt. Ob er auch Philippe Bruggisser den Prozess machen wird, verrät er nicht. Er und seine Kollegen würden den Ex-CEO regelmässig treffen. «Die Einvernahmen verlaufen relativ unkompliziert», sagt Hirt, «gemeinsam mit seinem Anwalt taucht Bruggisser bei uns auf, beantwortet unsere Fragen und unterschreibt das Protokoll. Dann kann er wieder gehen.»

Der Ex-Swissair-Chef hat sich nach seiner Entlassung geschickt verhalten. Im Unterschied zu Nachfolger Mario Corti, der mit Rundumschlägen gegen Banken und Medien für Aufsehen sorgte, hat sich Bruggisser bis heute nie öffentlich zum Swissair-Debakel geäussert. Ein Mal noch zeigte er sich vor Publikum, das war im Herbst 2002 an einer Studentenveranstaltung, wo er als Überraschungsgast über die Zukunft von Airlines referierte. Das Echo war niederschmetternd: Zuerst die Swissair in die Wand fliegen und dann Tipps an die Nachfolger verteilen ­ das sollte er gefälligst lassen.

Den missglückten Auftritt hatte der Zürcher Headhunter Björn Johansson eingefädelt, der Bruggisser zu Swissair-Zeiten viele Manager vermittelt hatte. Mehr Gespür zeigte Bruggisser bei der Wahl seines Rechtsbeistandes. Lorenz Erni zählt zu den renommiertesten Zürcher Strafverteidigern. Erni verteidigte Rudolf Bindella Anfang der neunziger Jahre in der «Wirteaffäre», dem Korruptionsskandal um einen Chefbeamten in Zürich. Mit Erfolg: Das Obergericht machte eine Verurteilung Bindellas zu sechs Monaten Gefängnis rückgängig. Erni ist Mitglied der SP und hat den Ruf, auch für Klienten mit wenig Geld zu arbeiten. Zu Bruggisser will sich Erni vor einem allfälligen Prozess nicht äussern.

Spiessrutenlauf am Konzert

Dass der frühere Swissair-CEO wegen ungetreuer Geschäftsbesorgung angeklagt werden könnte, bekümmert Bruggisser kaum, wie Aussagen gegenüber Bekannten nahe legen. Rolf Winiger, der jahrelang in Bruggissers Konzernleitung sass und heute ebenfalls mit der Liquidation der Airline beschäftigt ist, hat ihn zwischendurch getroffen. «Als ich ihn das letzte Mal sah, sagte er mir: ‚Weisst du, ich bin fast jeden Monat beim Bezirksanwalt.‘ Für ihn ist die Vergangenheit kein Tabu, er kann offen darüber reden und weiss genau, welche Fehler er begangen hat.»

Die meisten ehemaligen Weggefährten kriegen nur den coolen Bruggisser zu sehen, der nach der Zerstörung seines Lebenswerkes zu seiner Verantwortung stehen will. Jene Person aber, die ihm bis zu seiner Entlassung Anfang 2001 am nächsten stand, schildert eine andere Seite. Es ist Beatrice Tschanz, Ex-Swissair-Pressesprecherin, die regen Kontakt zu ihrem einstigen Chef hat: «Seine Stimmung ist sehr schwankend. Mal geht es ihm gut, mal lässt er sich gehen und sagt, es sei für immer gelaufen. Dann erinnert wenig an den starken Bruggisser von früher.»

Das Schlimmste, so erzählt sie, sei für ihn nicht die Entlassung, sondern die Vorverurteilung. «Einmal schaffte ich es, ihn an ein Konzert mitzunehmen. Das hatte ihm früher Freude gemacht. Doch dann tuschelten die Leute hinter seinem Rücken, und der Abend wurde zum Spiessrutenlauf. Er gab sich zwar cool und meinte, die Menschen seien halt so. Aber innerlich hat es ihn getroffen.»

Als Modelleisenbahnkollege Grotz Bruggisser dieses Jahr zu seiner Geburtstagsfeier einladen wollte, protestierte eine Ex-Swissair-Angestellte lautstark. An so einer Party werde sie ganz bestimmt nicht teilnehmen, liess sie Grotz wissen. Dass sie nach über dreissig Jahren in Swissair-Diensten ihren Job verloren hatte, war für sie allein das Verschulden ihres Ex-Bosses. Am Fest liess sich Bruggisser schliesslich nicht blicken.

Die öffentliche Aburteilung ohne Chance auf Rechtfertigung trifft einen Mann, der an einem nie gezweifelt hat: an sich selbst. Konzernchefs müssen über ein überdurchschnittliches Selbstvertrauen verfügen. Mit seinem übertraf Bruggisser aber alle.

Er kannte nichts anderes als den Erfolg, bis zum Untergang der Swissair ging es mit seiner Karriere nur immer bergauf. Er war der Beste in der Schule, wurde Oberst, machte eine Bilderbuchkarriere als Manager. Möglicherweise liegt sein Scheitern auch in seinem geraden, ungebrochenen Lebenslauf begründet.

Der pensionierte Bezirksschullehrer Anton Wohler hat ihn als zuverlässigen und intelligenten Schüler in Erinnerung. «Er war ruhig, reserviert, das Gegenteil von diesen Plauderi, von denen es im Pubertätsalter so viele gibt. Philippe war aber kein Streber, der immer zeigen wollte, dass er der Gescheiteste war. Er war einfach einer, der nie über die Stränge schlug.»

Grünes Licht nach Scheinmanöver

Bruggisser stammt aus einem bekannten Strohfabrikanten-Geschlecht aus Wohlen. Sein Urgrossvater Oskar gründete 1887 eine Strohhutproduktion. Andere Vorfahren machten auch Karriere: Einer war Brigadekommandant im Ersten Weltkrieg, mehrere sassen im National- oder im Grossen Rat, alle für den Freisinn.

1935 ging der Familienbetrieb nach Devisenspekulationen Pleite, Bruggissers Grossvater und später der Vater wurden Versicherungsmakler. Seine Mutter stammte aus der Westschweiz und sorgte dafür, dass ihr Sohn perfekt Französisch lernte.

Dass er 1998 entgegen dem Rat aller Spezialisten marode französische Airlines akquirierte, begründen Weggefährten mit seiner Liebe zum westlichen Nachbarland. «Bruggisser über den Tisch zu ziehen, war fast unmöglich», sagt Ex-Allianz-Chef Walter Vollenweider, «umso unverständlicher sind seine Käufe in Frankreich. Eine mögliche Erklärung, wenn es überhaupt eine auf der emotionalen Ebene gibt: Bruggisser ist frankophil.»

Als 1968 ganz Westeuropa in Aufruhr war, studierte der 20-jährige Bruggisser Ökonomie in Basel. Daniel Vischer, grüner Nationalrat und langjähriger Gewerkschaftsvertreter des Swissair-Bodenpersonals, erinnert sich an ein Gespräch mit ihm über die gemeinsame Zeit an der Uni. «Ob er niemanden von der damaligen Basler Studentenszene kennen gelernt habe, wollte ich wissen. Seine Antwort ist mir bis heute unvergesslich. ‚Ich hatte keine Zeit für Studenten, nur fürs Skifahren und fürs Militär.’»

Dort lernte Bruggisser zu führen. In den siebziger Jahren, als der Artillerist die Leiter bis zum Oberst im Generalstab hochkletterte, war eine Militärkarriere meist Bedingung für ein Vorwärtskommen in Grossfirmen. Hohe Offiziere loben Bruggisser noch heute. «Mitte der achtziger Jahre waren wir zusammen im Stab des 1. Korps», erinnert sich alt Divisionär Alfred Roulier. «Damals erlebte ich Bruggisser als einen feinen, zurückhaltenden und fähigen Generalstäbler, der perfekt bilingue war und nie mit seinem Job bluffte. Als ich von seiner Absetzung hörte, war mein erster Gedanke, dass nichts an ihm hängen bleiben wird. In meinen Augen ist er zu einem Opfer der Umstände geworden.»

Bruggissers Bescheidenheit gehörte auch zu seinem Kalkül. Im Sommer 1997 liess er seine Spezialisten ein Langfristszenario für die Swissair erarbeiten. Diese durften ihren Vorschlag ­ ein Zusammengehen mit einem grossen Partner, idealerweise mit der British Airways ­ persönlich dem Verwaltungsrat präsentieren. Dieser zeigte sich beeindruckt und forderte das Team auf weiterzumachen.

Ein Scheinmanöver Bruggissers, wie sich herausstellte. Sechs Monate später überrumpelte er Kollegen und Vorgesetzte mit einem völlig anderen Plan. In geheimer Mission, unterstützt von den Beratern von McKinsey, hatte der Swissair-Chef seine «Hunter»-Strategie entwickelt. Statt Teil eines grossen Luftfahrtbündnisses zu werden, propagierte Bruggisser den Ausbau zur «vierten Kraft» Europas, abgestützt durch Beteiligungen an anderen Fluggesellschaften, die den ersehnten Umsteigeverkehr generieren sollten. Der Überraschungsangriff gelang: Bruggisser erhielt grünes Licht für den Sololauf.

Damals war er 49 Jahre alt und allen Kollegen weit überlegen. Er wusste, wo Widerstand drohte, nahm vorweg, wer eigene Interessen verfolgten könnte, war parat, neue Trümpfe ins Spiel zu bringen. Dem grossen Bruggisser war keiner der Swissair-Manager gewachsen.

Marisabel Spitz, Präsidentin bei der Ferienanbieterin Hapimag und einst Mitglied in Bruggissers Allianz-Team, erlebte ihren Ex-Chef in Sitzungen so: «Wenn man ihm einen Businessplan oder eine Investitionsrechnung vorlegte, konnte man sicher sein, dass er den schwachen Punkt in der Excel-Tabelle sofort entdeckte.»

Jahrelang hatte Bruggisser gezeigt, dass er mehr vom Geschäft verstand als die Spezialisten, die es eigentlich besser wissen mussten. Mit der Zeit fühlte er sich allen überlegen, und die Mitarbeiter akzeptierten das ­ nicht weil er ihr Vorgesetzter war, sondern weil er seine Überlegenheit zu oft bewiesen hatte. Sogar als alle Zeichen auf Sturm standen, trauten sie Bruggisser noch immer zu, mit einem Überraschungscoup das Steuer herumzureissen und die Firma zu retten.

Der entfesselte Bruggisser hatte eine marode Firma nach der anderen erworben. Doch weder seine Managerkollegen noch der Verwaltungsrat wagten es, ihn zu hinterfragen. Die Folgen waren gigantisch: Nachfolger Mario Corti musste im Sommer 2001 eine Milliarde Franken nach Frankreich überweisen, um aus Bruggissers Verträgen aussteigen zu können. Der Konzern hätte wohl auch ohne die Anschläge vom 11. September ­ übrigens Bruggissers Geburtstag ­ nicht mehr lange überlebt.

Umso erstaunlicher ist, dass selbst jene Manager, die durch Bruggissers Alleingang Job und Firma verloren, mit ihrem Ex-Boss nur wohlwollend ins Gericht gehen.

«Motiviert hat seine sachliche Art, die Probleme anzupacken», sagt Max Michel, der als eine Art Chefentwickler Bruggissers Allianzstrategie koordinierte und ­ erfolglos ­ überwachte. «Er ist und bleibt trotz aller Kritik in den Medien in meinen Augen einer der besten Chefs, die ich je gesehen habe: Er war gerecht, fair, und er hatte eine Vision. Wenn er einen akzeptierte, dann genoss man sein volles Vertrauen.»

Der Spartaner vom Balsberg

Oder Martin Bisang, langjähriger Netzwerkmanager der Swissair, der sich vergeblich darum bemühte, die französische Air Littoral zu sanieren. Obwohl Bisang gegenüber Bruggissers Strategie kritisch eingestellt war, anerkennt er bis heute seine Stärken. «Er beeindruckte die Leute, weil er oft die Probleme schneller verstanden hatte als die Fachleute. Mit der Zeit hörte er dann kaum mehr auf sie.»

Der Ex-Allianz-Chef Walter Vollenweider erinnert sich an aussergewöhnliche Sitzungen. «Bruggisser war der Runde immer einige Schritte voraus. Ich glaube, die Teilnehmer litten oft unter der ‚erschlagenden‘ Kompetenz des Chefs. Manchmal war es extrem schwierig, Recht zu bekommen, vor allem wenn nicht alle Details vorlagen. ‚Bitte zuerst überlegen und dann sprechen‘, stellte er sie in den Senkel.»

Woher stammt dieser Respekt gegenüber jenem ehemaligen CEO, der wie kein Zweiter in der Schweiz scheiterte?

Seine Integrität und sein bedingungsloser Einsatz machten ihn zu einem Ausnahme-CEO innerhalb der Swissair-Gruppe. Bruggisser verlangte viel, schonte sich selbst aber zuletzt, sagt Rolf Winiger. Der in der Konzernleitung für Bodendienste und Technik zuständige Manager erinnert sich, wie in Bruggissers Eckbüro im obersten Stock des Hauptsitzes am Balsberg das Licht meist vor 6 und nach 22 Uhr brannte.

Der Untersuchungsbericht zum Swissair-Debakel von der Revisionsgesellschaft Ernst & Young hält fest, dass Bruggisser in beinahe allen wichtigen Gremien Mitglied war und in seinen fünf Jahren als Konzernleiter praktisch an allen Sitzungen persönlich teilgenommen hatte. Ganz im Unterschied zu einzelnen Verwaltungsräten, die selbst entscheidenden Sitzungen fernblieben oder vorzeitig davoneilten.

Der Swissair-CEO genoss den Ruf eines Spartaners. Legendär sind seine Flüge in der Billigklasse. Ex-Allianz-Chef Vollenweider erzählt die Anekdote von Bruggissers Rückflug aus Australien, als dieser in Sydney Economy wählte, um den Business-Sitz verkaufen zu können. «Auf Spesenabrechnungen musste er von seiner Assistentin aufmerksam gemacht werden», sagt Vollenweider, «solche Themen interessierten ihn nicht.»

Aus den Vereinigten Staaten, wo er in den achtziger Jahren als Controller für die Swissair tätig war, nahm Bruggisser einen bordeauxroten Ford Thunderbird mit in die Schweiz. Im Swissair-Management wurde das Auto berühmt, weil kein Chef eines Multis einen Ford Thunderbird fuhr und dieser mehrmals auf offener Strecke stehen blieb. Ein Mitarbeiter des damaligen Fuhrparks erinnert sich, wie er Philippe Bruggissers Thunderbird abschleppen musste. Doch der Chef habe halt seinen Amischlitten gern gehabt. Später sattelte er um ­ auf einen Occasion-Mercedes.

Und noch etwas begeisterte die Leute: Philippe Bruggisser konnte entscheiden. Ganz im Unterschied zu Otto Loepfe, seinem Vorgänger auf dem Chefsessel, der wichtige Projekte während Jahren schubladisierte. Bruggisser packte sofort nach seiner Einsetzung die «heissen» Dossiers an. Im Frühling 1996, lediglich drei Monate nach seiner Machtübernahme, schockierte er die Westschweiz mit dem Beschluss, die Mehrzahl der Langstreckenflüge ab dem Flughafen Genf zu streichen. Was betriebswirtschaftlich längst hätte passieren müssen, hatte Otto Loepfe noch aus Angst vor dem politischen Protestgeheul hinausgeschoben.

Völlige Isolation

Ungewöhnlich war auch Philippe Bruggissers Führungsstil. An seinem ersten Kaderworkshop in Montreux stand er vor die versammelten Manager und erzeugte mit seinen Worten eine Aufbruchstimmung, wie sie die Airline schon lange nicht mehr gekannt hatte. Plötzlich hatten nicht mehr die Skeptiker und Zyniker Oberwasser, sondern die Optimisten. Der Kurs der Aktie machte einen Sprung, die Vorgesetzten zogen am gleichen Strick in die gleiche Richtung, und selbst das Personal klatschte Beifall ­ trotz massivem Stellenabbau.

«Das war eine ziemlich gute Show», erinnert sich der grüne Nationalrat Daniel Vischer. «Man merkte, dass Philippe Bruggisser intellektuell mehr draufhatte als seine Vorgänger. Und er war erfrischend unkonventionell. Einmal fragte er eine Personalvertreterin, ob sie ihren Lohn schon erhalten habe. ‚Natürlich‘, gab diese erstaunt zur Antwort. Worauf Philippe Bruggisser sagte: ‚Was heisst da ,natürlichŒ? Die Aktionäre haben von uns schon lange kein Geld mehr bekommen.‘ Solche Töne waren 1996, als die Forderung nach Schaffung von Aktionärswerten noch für rote Köpfe sorgte, ziemlich ungewohnt.»

Nach dem Absturz einer MD-11 im September 1998 lernten Mitarbeiter und Öffentlichkeit einen neuen Bruggisser kennen: einen, der Mitgefühl zeigen konnte, der mit den Opfern trauerte. Wie stark ihn das Unglück von Halifax berührte, bleibt sein Geheimnis. Gut möglich, dass er auch diese Situation allein mit dem Intellekt erfasste, der ihm sagte, dass nun Empathie nötig war.

Im Unterschied zu Beatrice Tschanz beschreiben nämlich einige Ex-Kollegen Bruggisser als Menschen, der unfähig ist, echte Gefühle zu zeigen. Was im Rückblick auffällt, ist, dass sich der ehemalige Swissair-Chef keinen Millimeter von seinem Kurs abbringen liess: Nur fünf Wochen nach der Tragödie unterbreitete er dem Verwaltungsrat den grössten Übernahmedeal in der Geschichte des Unternehmens ­ den Kauf der deutschen Chartergruppe LTU, welcher zusammen mit den Frankreich-Akquisitionen dem Konzern das Genick brechen würde.

Hier könnte eine Erklärung für das Phänomen Philippe Bruggisser liegen: Ihm war alles geglückt, er hatte alle überzeugt und die grössten Herausforderungen gemeistert. Er war ein überdurchschnittlich begabter Unternehmensführer ­ und gleichzeitig ein Mensch, der seine Emotionen versteckte oder verleugnete. Das könnte zur tödlichen Kombination geworden sein, als das Schiff direkt auf den Eisberg zusteuerte. Da versagten alle Kontrollmechanismen: die von aussen, weil sich die Vorgesetzten und Kollegen sagten, der Bruggisser würde schon noch eine Lösung finden; und die von innen, weil der Swissair-Chef auch nicht einen Hauch von Unsicherheit verspürte.

Als seine Strategie gegen Ende des Jahres 2000 im Verwaltungsrat doch noch angezweifelt wurde, gab Philippe Bruggisser selbst einen Hinweis auf seine Gefühlskälte. Im kleinen Kreis meinte der Swissair-Chef einmal, dass ein Unternehmenslenker in gewissen Situationen «Eis im Bauch» brauche.

In Erinnerung bleibt seinen Vertrauten die Zeit, als sein Sohn zur Welt kam. Da war er häufig abwesend, ohne zu sagen weshalb. Als man ihn darauf ansprach, sagte er, seine Frau liege im Spital. Ob es schlimm sei, wollten die Kollegen wissen. Philippe Bruggisser antwortete mit einem Kurzsatz: «Nein, sie kriegt ein Baby.» Damit war das Thema für ihn erledigt.

Die strikte Trennung von Beruf und Privatem hatte verheerende Folgen, als sich abzeichnete, dass die «Hunter»-Strategie ins Verderben führte. Nun war kein Managerkollege und kein Verwaltungsrat zur Stelle, um Bruggisser ungeschminkt die Wahrheit zu sagen. Ausser Pressesprecherin Beatrice Tschanz liess er niemanden an sich heran, und Letztere verstand zu wenig vom Geschäft, um das Ausmass der Krise rechtzeitig abzuschätzen.

Die völlige Isolation war eine Folge seines militärischen Führungsstils. An einem Referat im chemischen Labor in Spiez weihte Philippe Bruggisser im Jahr 1999 die versammelte Schweizer Generalität in sein «Erfolgsgeheimnis» ein. Ein anwesender Ein-Sterne-General schrieb damals Bruggissers Führungsgrundsätze wortwörtlich auf. Sie lesen sich heute wie eine Blaupause für Militärstrategen einer untergegangenen Epoche:

«1 ­ Eine Vision haben und den Weg beibehalten: sich durch nichts davon abbringen lassen. Wenn äusserer Druck zur Kursänderung zwingt, bei Nachlassen des Drucks den alten Kurs sofort wiederaufnehmen.

2 ­ Keine Transparenz nach aussen: Geheimhaltung sowohl der Zwischenziele wie auch des eigentlichen Endziels vor der Realisierung.

3 ­ Keine Querdenker und Kritiker akzeptieren: in der Führungsmannschaft absolute Linientreue sowie Verschwiegenheit durchsetzen. Wer nicht spurt, muss weg.»

Kein Platz für Zweifel

Im gleichen Jahr wurde an einer Strategieübung namens «War Games» der Kampf zwischen den Airline-Allianzen simuliert. Am Ende waren sich achtzig Prozent einig, dass der Alleingang als vierte Kraft in Europa chancenlos sei. Bruggisser, so berichtet ein Teilnehmer, hörte sich die Kritik mit unbewegter Miene an. «Dann sagte er: ‚Ich habe euch gehört, ich werde an eure Einwände denken, wir fahren weiter wie bisher.’»

Für den CEO konnte nicht sein, was nicht sein durfte. Zusammen mit den McKinsey-Beratern hatte er eine Strategie entwickelt, die auf dem Papier Sinn machte, deren Resultat steigende Gewinne sein sollten. Wer Zweifel hatte, verstand in seinen Augen nichts vom modernen Airline-Business.

Was passieren könnte, wenn die zugekauften Airlines massive Verluste einfliegen würden; wenn die französischen Gewerkschaften stur bleiben würden; wenn die herausgeforderte Air France mit einem ruinösen Preiskampf reagieren würde: Ausgerechnet in der durchstrukturierten Welt von Controller Bruggisser fehlten Antworten auf einfachste Fragen. Als sich der Erfolg seiner Strategie nicht einstellen wollte, lag das seiner Meinung nach nicht am falschen Plan, sondern an den Kunden, die das neue Airline-Zeitalter nicht begriffen hatten. In Bruggissers Welt hatte er, der Schöpfer der «Hunter»-Strategie, Recht, nicht das zahlende Publikum ­ auch wenn die Milliardenverluste das Gegenteil bewiesen.

Oktober 2004, 7. Stock, Balsberg: Hier, im Eckbüro mit der Nummer 7222, sass Bruggisser bis vor vier Jahren, allein und zunehmend vereinsamt, und fällte seine letzten Entscheide. Im Januar 2001, nachdem ihn der Verwaltungsrat ohne ein Wort des Dankes abgesetzt hatte, packte er seine Sachen und liess sich nie mehr blicken. Ein Jahr später war die Traditions-Airline, das einstige Aushängeschild der Schweiz, Geschichte ­ nach 71 Jahren. Heute teilen sich Angestellte einer hierzulande unbekannten US-Firma Bruggissers Büro. An die Swissair-Zeit erinnert nur noch ein verstaubtes Logo seiner Vision der vierten Kraft namens «Qualiflyer Group». Die blaue Erdkugel mit dem weissen Schweif hängt immer noch an der Wand im Flur der ehemaligen Direktionsetage.


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