Angst im Paradies

Der starke Franken wird zur Belastungsprobe für die Schweizer KMU. Ökonomen sehen die Schmerzgrenze erreicht und warnen. Handelszeitung, 1. Juni 2011

Der Euro-Kurs wird zum Stresstest für die Schweizer Industrie. Die schwächelnde Einheitswährung nähert sich bedrohlich der 1.20-Franken-Barriere, was fürs Land ungemütlich werden könnte. «Die meisten Ökonomen gehen von einem fairen Euro-Wechselkurs bei 1.40 Franken aus», sagt Klaus Wellershoff, Gründungspartner der gleichnamigen Beratungsfirma. «Dass dieser zwischenzeitlich um 15 Prozent unterschritten werden kann, daran hat man sich gewöhnt. Dort aber liegt die Schmerzgrenze. Ein noch tieferer Euro wird gefährlich.»

Kritisch ist diese 15-Prozent-Schmerzgrenze nicht so sehr für grosse Firmen wie Nestlé, die Pharmakonzerne oder breit aufgestellte Industrieunternehmen wie Sulzer. Diese haben eigene Produktionsstätten in den ausländischen Absatzmärkten, was sie vor Währungsunbill schützt. Diese Möglichkeit fehlt aber vielen kleinen und mittelgrossen Firmen. Das berühmte Rückgrat der Schweizer Wirtschaft ist auf Gedeih und Verderb von den Inlandbedingungen abhängig, weil Produkte und Dienstleistungen von hier in die Weltmärkte exportiert werden.

Substanz der Firmen bedroht

Um in Euro und Dollar konkurrenzfähig zu bleiben, bleibt diesen exportabhängigen KMU als einziger Ausweg, die Preise in Franken zu senken. Das aber schlägt direkt auf den Gewinn durch. «Die Margenproblematik geht bereits vielen mittelständischen Schweizer Firmen an die Substanz», ist Wellershoff überzeugt. «Das wird unterschätzt, weil die Umsätze dank starker Weltwirtschaft nach wie vor gut sind.»

Analyst Claude Maurer von der Credit Suisse bestätigt den Befund. «Der starke Franken drückt noch nicht so sehr auf den Umsatz und die Arbeitsplätze – Deutschland sei Dank.» Hingegen würden die Margen sinken und die Schweizer Exporteure zwingen, «mehr und mehr Einkäufe in den Euro-Raum zu verschieben».

Aufsehen erregte kürzlich die Altdorfer Kabelherstellerin Dätwyler mit ihrer Ankündigung, 100 Arbeitsplätze in der Schweiz abzubauen. Diese würden in das bestehende Werk in China verschoben, zusätzlich werde eine Verlagerung nach Osteuropa geprüft.

Damals bewegte sich der Euro-Kurs um vergleichsweise moderate 1.30 Franken. Schon diese erste Schwäche genügte, um Spuren in der Wirtschaftsstatistik zu hinterlassen. Gemäss den jüngsten Zahlen des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) brummt zwar die Exportwirtschaft kräftig, die Warenexporte lagen im Quartalsvergleich bei plus 3,1 Prozent, jene von Services und Dienstleistungen gar bei plus 10,8 Prozent. Doch es war ein Satz im Seco-Communiqué, der aufhorchen liess. «Die seit Frühjahr 2009 anhaltende negative Tendenz der Exportpreise setzte sich auch im 1. Quartal mit einem Rückgang um 1,4 Prozent fort», hiess es aus Bern. Man sehe nun den Preisdruck im Export, sagt Jan-Egbert Sturm von der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich. Noch stimmten die Umsätze, die Geschäfte liefen wie vor gut. «Die grosse Frage lautet: Wie lange können die Schweizer Exporteure dem offensichtlichen Preisdruck standhalten?», bringt der Konjunkturforscher das Problem des Frankens auf den Punkt.

Druck auf Kosten steigt rasend schnell

Volle Auftragsbücher, kaum Gewinn: Der Zustand ist für viele Mittelstandsfirmen zur brutalen Normalität geworden. Erleichterung ist keine in Sicht. Im Gegenteil, der Druck auf die Kosten steigt weiter, und zwar nicht abgefedert über Monate und Jahre, sondern rasend schnell. Am Anfang der Ursachenkette stehen die europäische und amerikanische Schuldenkrise. Aus Angst vor Vermögensverlusten treibt die düstere Lage der staatlichen und privaten Finanzhaushalte die Investoren zur Flucht in sichere Währungen, was Euro und Dollar zusätzlich schwächt. Dass der vielzitierte «Sichere Hafen»-Effekt tatsächlich spielt, zeigt die Kapitalverkehrsstatistik der Nationalbank. Bewegten sich die Obligationenkäufe von Ausländern in der Schweiz zwischen 2000 und 2009 zwischen minus 2 und plus 7 Milliarden Franken, so schossen die Zuflüsse in solche Titel im letzten Jahr auf 30 Milliarden hoch. Dahinter steckt die Flucht von privaten und institutionellen Anlegern aus Euro- in Franken-Anleihen.

«Die Europäer reden nicht nur von einer Verschiebung in den ‹Safe haven› Schweiz, sie verschieben auch tatsächlich einen Teil ihres Vermögens hierher», bestätigt CS-Ökonom Claude Maurer die Entwicklung. «Das treibt den Franken zusätzlich nach oben.»

Für Richard Fritschi, den Chef der Burgdorfer Insulinspritzen-Produzentin Ypsomed, ist die Lage schon heute dramatisch. «Der Franken wird zum Riesenproblem für die mittelständische Schweizer Wirtschaft. Wir hätten 2010 ein Umsatzwachstum gehabt, davon blieb wegen des starken Frankens nichts übrig.» Die Schweiz sei sich gar nicht bewusst, wie brutal die Lage für viele mittelständische Firmen geworden sei, meint Fritschi. Vor allem die Passivität der Regierenden sei erstaunlich. «Wenn die Frankenstärke anhält und immer weitergeht, kostet uns das Zehntausende von Arbeitsplätzen», meint der 51-Jährige. «Die gehen ins Ausland – und von dort kommen sie nie mehr zurück.»

Die Frankenhausse müsste die Ökonomengilde vorsichtlich stimmen. Trotzdem blicken einige noch zuversichtlich in die Zukunft. «Wir sollten jetzt nicht zu schwarz malen», sagt stellvertretend Konjunkturforscher Sturm. Eine gewisse Abkühlung sei da, aber die Schweiz werde 2011 voraussichtlich um knapp 3 Prozent wachsen. «Das wäre immer noch ganz ansehnlich.»

Der Konsumrausch lässt nach

Die grosse Stütze in der Krise war der Konsum. Die Schweizer Konsumenten liessen sich weder von den UBS-Problemen noch von der schlingernden Weltwirtschaft die Laune verderben. Der Gesamtkonsum, der sich aus Ausgaben der Privathaushalte und jenen des Staats zusammensetzt, stieg fast ausnahmslos Quartal für Quartal (siehe Grafik).

Doch nun hat sich das Bild verdüstert. Die jüngsten Zahlen vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) für das 1. Quartal 2011 zeigen nur noch ein kleines Plus von 0,1 Prozent im Vergleich zum Vorquartal. Einer Zunahme beim Privatkonsum steht eine Abnahme beim Staatskonsum gegenüber. Der Wind hat vor allem bei den Privaten gedreht. Waren die Ausgaben der Schweizer Wohnbevölkerung im letzten Jahr ausschlaggebend dafür, dass trotz staatlichem Bremsmanöver anhaltend stolze Wachstumsraten resultierten, scheint Herr und Frau Schweizer die Lust am Konsum allmählich zu vergehen. Offenbar zweifeln immer mehr daran, dass ihr Land noch lange eine Ausnahmeerscheinung im sturmgeplagten Europa bleiben kann.

Oder handelt es sich um eine temporäre Abkühlung? Dies vermuten die Ökonomen der UBS. Ihr neuster Konsumindikator ist zwar im April leicht gesunken und passt ins Bild, welches das Seco zeichnet. Doch die Aussichten würden rosig bleiben, meint die Grossbank: «Tiefe Zinsen, der boomende Arbeitsmarkt und der starke Franken, der importierte Konsumgüter verbilligt, dürften auch weiterhin für ein solides Konsumwachstum sorgen.»


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