Der Vincenz-Express ist nicht zu bremsen

Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz will mit seiner Genossenschaftsbank den Platzhirschen die Städte streitig machen. Damit könnte sich der Shootingstar aus der Provinz übernehmen. Handelszeitung, 8. Dezember 2010

Kaum ein Schweizer Banker wirkt auf Anhieb derart locker und volksnah wie Pierin Vincenz. Wenn der gross gewachsene, sportliche 54-Jährige so wie jüngst in Zürich den scharfen Expansionskurs seiner Raiffeisen-Gruppe anpreist, hält er die rechte Hand mal locker im Hosensack, um danach bei einer Frage den Zeigefinger in Denkerpose ans Kinn zu halten und schliesslich lässig seine Ausführungen mit Kreisbewegungen zu untermalen.

Erst bei näherem Hinsehen tauchen Anzeichen auf, die hinter dem jovialen Herrscher über die dritte Kraft im Schweizer Banking mit 1132 Bankstellen und 140 Milliarden Franken Bilanzsumme noch einen anderen Typ zeigen. Das hellblaue Hemd des Bündners mit dem gewinnenden Bariton ist mit Manschettenknöpfen versehen, der Anzug sitzt perfekt, Schildchen und Präsentationsfolien sind mit «Dr. Pierin Vincenz» versehen.

Genau diese Egozentrik sei seine Achillesferse, sagt ein Zürcher Banker, der sich namentlich nicht zu erkennen geben will. Die Kritik ist nicht neu: Man erinnert sich an Berichte über private Luxusbauten und Helikopterflüge zu Fussball-Endspielen sowie an eine Fahrt in Vincenz Limousine, einem dunklen Audi A8. Der Raiffeisen-Lenker umgebe sich in seiner Geschäftsleitung mit Nichtbankern. Tatsächlich sitzen dort: Zwei Informatikspezialisten, zwei Logistiker, ein Finanzmann. Aus dem für die Raiffeisen matchentscheidenden Hypothekengeschäft stammt einzig die Chefin der Niederlassungen.

Folien für jedes Argument

Vincenz wäre nicht der erste Banker, der Gefahr läuft, abzuheben. Aber vermutlich der erste, der von der Raiffeisengruppe stammte: Einer Genossenschaft von Klein- und Kleinstablegern, verstreut übers ganze Land, mit Filialleitern, für die Vincenz und seine Sankt-Galler Zentrale so weit weg sind, wie dies für einen UBS-Schalterangestellten die Investmentbanker in Manhattan waren.

Im persönlichen Gespräch wirkt Vincenz aufrichtig, unprätentiös, betont zugänglich. Das Gegenteil von dünkelhaft. Auch seine Aussagen zu den vielen Fragezeichen rund um das enorme Wachstum seiner Raiffeisen-Gruppe kommen wie aus der Pistole geschossen daher, stets unterlegt mit Folien für jedes vorgebrachte Argument. Wachstum der Bilanzsumme von 123 Milliarden Franken im jahr 2007 auf 140 Milliarden Franken Ende 2009? Kein Problem, das Raiffeisen-Geschäftsmodell basiert auf Volumen. Hypothekarausleihungen von 94 Milliarden Franken auf 111 Milliarden Franken hochgeschossen? Die stammen schwergewichtig aus den Regionen und nicht aus den begehrten Zentrumslagen Zürich und Genf. Und auch dass der Gruppengewinn von 700 Millionen Franken auf 650 Millionen gesunken ist, macht Raiffeisen keinen Kummer: Der Genossenschaft geht es doch nicht um Gewinnmaximierung!

Exponiertes Hypogeschäft

Klingt gut. Nur: Die Zweifel an der Nachhaltigkeit des atemberaubenden Vormarsches der Raiffeisen bleiben. Heute hält die Gruppe 15 Prozent aller Hypotheken in der Schweiz, bei den Neuvergaben für selbstbewohntes Wohneigentum ist die Bank von Pierin Vincenz zur Marktleaderin geworden. Erreicht hat sie ihre Machtstellung im boomenden Immobilienmarkt durch stetes Wachstum seit 2001. Neun Mal in Folge legte die Genossenschaft stärker zu als der Markt, und ein Ende dieser Serie ist nicht in Sicht (siehe Grafik). Im Gegenteil, in den letzten zwei Jahren betrug das Raiffeisenplus mit 8 statt 4 Prozent respektive 9 statt 5 Prozent rund das Doppelte.

Der Vincenz-Express riss die staatlichen Aufseher in Bern aus dem Schlaf. Seit Sommer schwärmen die Buchprüfer der Finanzmarktaufsicht (Finma) in die Raiffeisen-Regionen und nehmen die belehnten Immobilien unter die Lupe. Haben die Zehntausende von Ein- und Mehrfamilienhäusern und das viele Stockwerkeigentum auch den Wert, den ihnen die Raiffeisen-Banker zugrunde legen? Oder steht der Hypothekenberg der Vincenz-Bank auf tönernen Füssen und bricht bei einer Zinswende, wenn die Verschuldung plötzlich wieder teuer wird, mit einem lauten Knall zusammen?

Vincenz lacht. «Sehen Sie, dass uns die Finma unter die Lupe nimmt, finde ich super», sagt er im Gespräch. «Das bedeutet zusätzliche Sicherheit. Und wissen Sie was? Die Finma hat uns bestätigt, dass wir keine grossen Hypothekenrisiken eingehen. Das wurde uns mündlich mitgeteilt.» Ähnlich tönt es aus Bern. «Wir haben sicher keine Lex Raiffeisen», sagt Finma-Sprecher Alain Bichsel und bestätigt lediglich, dass Vorort-Überprüfungen der Hypothekenvergabe bei «mehreren Banken» stattfänden.

Dass gerade Raiffeisen besonders aggressiv um Hypothekenkunden wirbt, ist in der Branche ein offenes Geheimnis. «Wir stellen immer wieder fest, dass die Raiffeisen-Gruppe die klassischen Finanzierungsregeln grosszügiger auslegt als andere Institute», sagt Lorenz Heim vom VZ Vermögenszentrum, das selber auch Hypotheken anbietet. Laut Heim müsste es zumindest nach gängiger Lehre bei solchen gelockerten Finanzierungen «im Falle von steigenden Zinsen oder sinkenden Immobilienpreisen schneller zu Problemfällen» kommen.

Risiken sieht auch der Zürcher Bankenexperte Hans Geiger. «Raiffeisen hat nicht viel Anderes als das Hypogeschäft, entsprechend exponiert ist sie, wenn die Zinsen hochspringen und sie viele Langfristhypotheken zu tiefen Zinsen offen hat.» Allerdings wäre der «Wir-sind-immer-günstiger-Kurs» ohne das Eingehen gewisser Risiken nicht möglich. Würde die Raiffeisen die Risiken, die bei einer Zinswende drohen, absichern, hätte sie höhere Kosten und müsste von den Hypo-Kunden entsprechend höhere Zinsen verlangen. Dass die Raiffeisen eine sehr viel günstigere Kostenstruktur als beispielsweise die UBS ausweist, trifft nämlich nicht zu. Laut UBS-Schweiz-Chef Lukas Gähwiler ist eine Marge von 70 Basispunkten, entsprechend 0,7 Prozentpunkten, das Minimum, damit Hypotheken keine Verluste bescheren. «50 bis 70 Basispunkte sollte die Marge schon ausmachen, um nicht draufzahlen zu müssen, das gilt auch bei uns», sagt Vincenz.

Er relativiert aber gleich wieder: «Wir können im Einzelfall den Preis anderer unterbieten, weil wir dann einfach bei den Marketingausgaben auf die Bremse stehen. So einfach geht das bei uns.»


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