Verschworene Seilschaft

Neue Details zum Jungfrau-Drama zeigen, wie fragwürdig das Militär informiert.

Die erste Seilschaft erreichte am Donnerstag vor einer Woche im Aufstieg zur Jungfrau etwa um 9 Uhr den Rottalsattel. Ohne auf diesem Einschnitt zu verweilen, gehen die jungen Männer – es sind die sechs Deutschschweizer der Gruppe – weiter, kreuzen den Hang zu den im Fels eingebohrten Sicherungsstangen. Sie befinden sich auf der Normalroute zum Jungfrau-Gipfel. Kurz bevor sie die Stangen erreichen, erschallt von hinten ein lauter Ruf. Die beiden Bergführer – die mit zwei welschen Dreierseilschaften inzwischen den Rottalsattel erreicht haben, befehlen ihnen, sofort rechtsumkehrt zu machen. Dies zeigen Recherchen der SonntagsZeitung.

Die 20-jährigen Deutschschweizer mussten sich anhören, welcher Fehler ihnen unterlaufen sei. In der Mulde des Hangs, den sie soeben traversiert haben, hatte sich viel Triebschnee gesammelt. Solche Schräglagen mit frischem Schnee, der sich noch nicht mit der Unterlage verbunden hat, gelte es zu umgehen, dozierten die Bergführer.

Martin Immenhauser, Sprecher der den Unfall untersuchenden Militärjustiz, will sich wegen der laufenden Ermittlungen zu dieser Schilderung nicht äussern.

Das bisher nicht bekannte Detail aus dem Bergdrama zeigt: Die Bergführer hatten die Lawinengefahr erkannt, die auf der Jungfrau herrschte, nachdem es in den Tagen zuvor geschneit und gewindet hatte. Dennoch gingen die Bergführer und die zwölf Gebirgssoldaten weiter – auf einer anderen, direkteren Route. Diese gilt als schwierig, weil sie bis zu 50 Grad steil ist. Zuerst führt sie über einen Rücken. Das bedeutet Sicherheit vor Lawinen, denn auf dem schmalen Grat (siehe Foto Seite 12) liegt nur sehr wenig Schnee.

In vier Dreierseilschaften, mit Pickel und Steigeisen, stapft die Gruppe los; die beiden Bergführer bleiben unangeseilt. Nun gehen die sechs welschen Soldaten voraus, dahinter folgen die sechs Deutschschweizer, dazwischen steht einer der Bergführer. Wo sich der zweite befindet, ob auch in der Mitte oder am Ende, ist nicht bekannt. Bis zum Ende des Rückens verläuft der anspruchsvolle Aufstieg nach Plan: Die Schneedecke ist dünn, die Tritte sind fest.

Spätestens am Ende des Rückens, sagt der Lawinenexperte Werner Mutter, hätten die Rekruten umkehren müssen. Denn hier führt die Route in einen steilen Hang – und das bedeutet bei dieser Schneelage Lawinengefahr. Die Rekruten an der Spitze realisieren offenbar nicht, wie sie von sicherem auf unsicheres Terrain wechseln. In kurzen Abständen von zwei bis drei Metern pro Mann und Seilschaft setzen die Männer ihren Aufstieg direkt auf den Jungfraugipfel fort. Die vordersten zwei Seilschaften spüren unter ihren Schuhen nicht mehr die dünne Schneeschicht des Felsrückens, sondern sinken im Neuschnee ein. Der hinterste Mann verlässt gerade den Grat, da kracht es oben im Hang, ein Schneebrett geht los.

Wie viele Meter die Abrissstelle der Lawine über dem Ende des Rückens liegt, müssen die Abklärungen zeigen, die das Schnee- und Lawinenforschungsinstitut im Auftrag der Untersuchung vornimmt. Für Lawinenexperte Munter ist klar: Die vorderste Seilschaft war im Lawinenteil. Experten des Schweizer Bergführerverbands sagen hingegen, genau diese Frage sei offen.

Die Schuldfrage muss die Militärjustiz prüfen

Ob das Schneebrett direkt für den Tod der sechs Soldaten verantwortlich ist, oder ob sie vom rutschenden Schnee verschont blieben und ein anschliessender Sturz eines Soldaten fünf andere mit in die Tiefe riss, ist für die Schuldfrage unerheblich. Dies sagt Christian Cotting, Leiter der Rechtskommission des Schweizerischen Alpenclubs (SAC): «Entscheidet sich ein Bergsteiger für die Begehung einer so steilen Flanke, dann sind üblicherweise standardmässige Sicherheitsmassnahmen angebracht, die verhindern sollen, dass eine rutschende Seilschaft eine zweite mitreissen kann. In solchem Gelände gehen die Seilschaften dann in der Regel versetzt.» Komme das Gericht zum Schluss, «dass eine solche Massnahme angebracht gewesen wäre, könnte eine strafrechtlich relevante Fahrlässigkeit vorliegen», erklärt SAC-Jurist Cotting.

Die Schuldfrage prüfen muss die Militärjustiz. Bislang hinterliess diese aber einen wenig souveränen Eindruck. Sie machte das Verwirrspiel, welches das Militär bisher bei der Erklärung des Bergdramas betrieb, wacker mit: Am Donnerstag, dem 12. Juli, teilte die Armee den Lawinentod von sechs Soldaten mit; einen Tag später erklärte Militärjustiz-Sprecher Martin Immenhauser, die Untersuchung werde Monate dauern, Resultate würden im Oktober vorliegen. Letzten Dienstag dann trat der Obergefreite A., der bei der verhängnisvollen Tour dabei gewesen war, vor die Medien, und sagte, er habe nichts von einer Lawine gemerkt, aber gespürt, wie sein Vordermann auf ihn gestürzt sei. Einen Tag später schob Immenhauser nach, dass weder Drogen noch Alkohol im Spiel gewesen seien – als hätte dies irgendjemand vermutet.

Die Folge war, dass die Öffentlichkeit die Widersprüche diskutierte statt – wie in den ersten Tagen – die Frage, wieso die Truppe trotz erheblicher Lawinengefahr eine als riskant bekannte Route beging.

Meldung ohne Rücksprache mit den Überlebenden

Die verwirrende Medienarbeit des Militärs verleitet zum Schluss, dass die Armee den Eindruck, ihre Leute hätten Fehler begannen, zerstreuen will. Ebenso scheint es, dass sie dabei den Sukkurs der Militärjustiz erhält – die den Fall unabhängig zu untersuchen und zu beurteilen hat (siehe Artikel oben).

Will das Verteidigungsministerium (VBS) die seit Jahren um Anerkennung ringende Armee reinwaschen, indem es die Variante des tragischen Absturzes anstatt des Lawinenniedergangs ins Spiel brachte? Einen individuellen Fehler eines Rekruten als Unfallursache nahelegen – statt den Lawinenniedergang, den erfahrene Bergführer hätten antizipieren und meiden müssen? Das VBS bestreitet diesen Verdacht. «Jene acht Personen, die überlebt haben, hatten das dringende Bedürfnis, ihre persönliche Wahrnehmung der Ereignisse zu schildern. Wir haben ihnen letzten Dienstag lediglich die Möglichkeit gegeben, das zu tun», sagt Kirsten Hammerich, Sprecherin des Heeres.

Tatsächlich hatte das VBS die Meldung vom Lawinentod der sechs Armeeangehörigen ohne Rücksprache mit den Überlebenden verbreitet.

Unmittelbar nach dem Unglück hatten die Bergführer Alarm geschlagen. Eine Lawine habe sechs Leute in die Tiefe gerissen. Am Freitag nach dem Unglück, als die Tour wegen der erhöhten Lawinengefahr kritisiert wird, die am Tag der Tour herrschte, setzen sich die beiden betroffenen Bergführer zur Wehr. Welche Schuld sie – und die militärische Führung – trifft, werden erst die Untersuchung und allenfalls das Gericht schlüssig beurteilen können.