Wo Justitia schweigen muss

Der Mannesmann-Prozess zeigt: In Wirtschaftsverfahren stösst das Strafrecht rasch an seine Grenzen. Auch wenn die Öffentlichkeit nach Sühne ruft. Umso mehr steigt der Druck auf die Richter vor dem Swissair-Prozess.

Es war nur ein einziger, trockener Satz. Aber der hatte es in sich: Letzten Freitagnachmittag – die Besucherreihen im Landgericht Düsseldorf waren längst gelichtet, der Prozess plätscherte vor sich hin – erhob sich Staranwalt Eberhard Kempf, Verteidiger von Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann, und sprach zum Gerichtsvorsitzenden den Satz: «Die Verteidigung von Herrn Dr. Ackermann regt an, das Verfahren gemäss Paragraf 153a, Absatz 2 Strafprozessordnung gegen geeignete Auflagen einzustellen.» Auf Deutsch: Gegen die Zahlung von umgerechnet fünf Millionen Franken bleibt Ackermann ein freier Mann. Der Richter signalisierte bereits Zustimmung.

Das plötzliche Ende des Mannesmann-Prozesses ist – ausser für die Angeklagten – für alle Seiten unbefriedigend: für den anklagenden Staat, für das Gericht und für die Gesellschaft. Es zeigt vor allem eines: Das Strafrecht eignet sich kaum für die Klärung komplexer Wirtschaftsthemen. Und das unabhängig vom einzelnen Fall und vom nationalen Rechtssystem.

Oft bleibt in Strafprozessen die Hauptverantwortlichkeit und damit die Schuldfrage offen. «Das Strafrecht kann nie die Frage nach der Gesamtverantwortung für das Ende eines Konzerns beantworten», sagt Professor Daniel Jositsch von der Universität Zürich. Die zu prüfenden Einzeltaten müssten nämlich nicht zwingend die Ursache sein für das wirtschaftliche Versagen, begründet der Rechtsexperte.

Schauprozesse

Die begrenzte Wirkung des Strafrechts wird in spektakulären Wirtschaftsprozessen zum Problem. Wenn ein Multi unter Getöse zusammenkracht (Swissair) oder sich bekannte Wirtschaftsführer gegenseitig Sonderprämien zuhalten (Mannesmann), fordert die aufgeheizte Volksseele eine scharfe Verurteilung in der öffentlichen Gerichtsarena. Die Firmenlenker sollen für ihre Fehler büssen.

Der Ruf nach Vergeltung sollte die Richter nicht kümmern. Tut es aber doch, wie die Urteile in den jüngsten Wirtschafts-Strafprozessen nahelegen. Der Mediendruck spielt durchaus eine Rolle bei Urteil und Strafmass. Damit besteht die Gefahr, dass grosse strafrechtliche Wirtschaftsfälle zu Schauprozessen ausarten.

Beim Prozess um den Kollaps des Energiekonzerns Enron etwa, den grössten Firmenzusammenbruch Amerikas der letzten Jahrzehnte mit unzähligen Geschädigten, wollte der Ankläger vor allem ein Ziel erreichen: die Hauptverantwortlichen für möglichst viele Jahre hinter Gitter bringen. Dafür benötigte er einen Mittäter, der seine Chefs an den Pranger stellte – einen Kronzeugen. Diesem musste er im Gegenzug für seine Kooperation Strafminderung versprechen. Eine Regelung, die das amerikanische Rechtssystem erlaubt, das schweizerische nicht. Die Rechnung des Anklägers ging auf, das harte Urteil mag den öffentlichen Wunsch nach Vergeltung befriedigen. Doch dass vor Gericht alle Angeklagten gleichgestellt wären, kann unter diesen Umständen niemand behaupten.

Fragen wirft auch der vorgeschlagene Deal im Mannesmann-Prozess auf. Wie ist es erklärbar, dass sich die Parteien drei Jahre lang in stundenlangen Gerichtssitzungen bekämpfen, um die Angelegenheit zuletzt per Scheckbuch aus der Welt zu schaffen?

Laut Professor Stefan Braum von der Universität Luxemburg hätte der Mannesmann-Prozess gar nie stattfinden dürfen. «Fehlende Geschäftsmoral kann man nicht durch das Strafrecht ersetzen.» Ob Zahlungen ohne ersichtliche Gegenleis-tungen, wie sie von Ackermann und Co. eventuell beschlossen wurden, zu sanktionieren sind oder nicht, sei Sache des zivilen Aktienrechts und nicht des Strafrechts, sagt Braum.

Doch die Mehrheit der Rechtsgelehrten hätte dafür plädiert, die Verantwortlichen vor ein Strafgericht zu ziehen. Das erzeugte grossen Druck. «Vielleicht», sagt Strafrechtsexperte Stefan Braum, «wollte die anklagende Staatsanwaltschaft beweisen, dass sie selbst so einflussreiche Persönlichkeiten wie Ackermann und Esser vor den Richter zu ziehen gewillt sei.»

Experten sehen Handlungsbedarf für die Schweiz

Nach Enron und Mannesmann richtet sich das Augenmerk nun auf die Schweiz: In Bülach wird ab dem 16. Januar der Swissair-Prozess stattfinden. Für den Zürcher Strafrechtsprofessor Daniel Jositsch stehen auch in diesem Fall die Richter unter besonderem Stress. «Wird das Gericht dem Druck der Öffentlichkeit standhalten und sich in seinem Urteil nicht beeinflussen lassen?», fragt er.

Während Kritiker wie Stefan Braum aus Luxemburg den Mannesmann-Prozess als unnötig bezeichnen, sind sich Schweizer Experten einig, dass der Swissair-Kollaps genügend Stoff für eine strafrechtliche Würdigung bietet. «Im Fall Swissair besteht schon ein erheblicher Verdacht, dass Strafnormen verletzt wurden», sagt etwa der Freiburger Professor Franz Riklin. «Bei fast allen Pleiten stösst man bei näherem Hinsehen auf strafrechtlich relevante Unkorrektheiten, die gegen Schluss noch begangen werden.» Jositsch lobt die Arbeit der Zürcher Staatsanwaltschaft, die ihre Anklage zurückhaltend formuliert und dem lauten Ruf nach Vergeltung nicht vorschnell nachgegeben habe. Sie habe aus einem Berg von Akten einzelne Fälle zusammengetragen, die es verdient hätten, von einem Strafgericht gewürdigt zu werden.

Trotz aller Einigkeit darüber, dass der Swissair-Fall vor dem Straf- und nicht vor dem Zivilrichter behandelt wird, erkennt Franz Riklin Handlungsbedarf für die Schweiz: «Auch unser Land hat, wie fast alle Staaten, grosse Probleme, wenn es um die strafrechtliche Behandlung grosser Wirtschaftskriminalitätsfälle geht.» Das Kernproblem seien die komplexen Fragestellungen und die beschränkten Ressourcen der Strafverfolgungsbehörden.

Besonders problematisch ist laut dem Freiburger Professor die gesetzliche Pflicht der Ankläger, jedem einzelnen Verdachtsmoment nachzugehen. Das führe zu langen Verfahren, was für alle Beteiligten unbefriedigend sei, sagt Riklin. «Es wäre schon viel gewonnen, wenn die Strafbehörden Erfolg versprechende Teile herausgreifen und sich darauf konzentrieren könnten.» Die Zürcher Behörden täten dies seines Wissens, auch wenn sie dadurch den gesetzlichen Ansprüchen nicht genügten.

Keine gute Lösung wären laut Riklin Deals, wie sie in Deutschland an der Tagesordnung sind und im Mannesmann-Verfahren vorgeschlagen wurden: dass sich die Angeklagten durch Geld oder gemeinnützige Arbeit von einer Anklageerhebung befreien können. Dies würde in der Schweiz auf «beträchtliche Abneigung» (Riklin) stossen aus Sorge um die gleichmässige und systematische Durchsetzung des Strafrechts. «Ein Deal, bei dem man sich eine Verfahrenseinstellung erkauft, widerspricht unserem Gerechtigkeitsempfinden», sagt Riklin. Die anstehende Reform zielt denn auch in eine andere Richtung. Zur Entlastung der Gerichte sieht sie das so genannte abgekürzte Verfahren vor. Dieses lehnt sich ans amerikanische «plea bargaining» an, bei dem sich Ankläger und Beschuldigter ohne detailliertes Verfahren auf einen Strafantrag und ein Strafmass verständigen.

Der Mannesmann-Prozess hätte so auch abgekürzt werden können. Die jetzt in Düsseldorf gefundene Lösung ist für Josef Ackermann in jedem Fall die bessere: Durch den Handel ist er zwar um fünf Millionen Franken ärmer, gilt aber nicht als vorbestraft.


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