Schicksal Schokolade

Umsatzrückgang und Imageschaden belasten Nelly Wengers Bilanz. In den Budgetrunden entscheidet sich die Zukunft der Nestlé-Schweiz-Chefin.

Der Weg in die Zentrale war für Nelly Wenger, 51, meist ein leichter Spaziergang. Falls nicht in Eile, konnte die Chefin von Nestlé Schweiz aus ihrem Büro im Stadtteil Entre-Deux-Villes im Osten von Vevey loslaufen, den Quai Perdonnet am Ufer des Genfersees entlangschlendern, dann die Place du Marché überqueren und zuletzt ein paar hundert Meter geradeaus durch die breite Rue du Torrent. Nach insgesamt anderthalb Kilometern stand sie vor den Pforten jenes Orts, wo die Fäden aus dem Milliarden-reich zusammenlaufen: der Avenue Nestlé 55, Hauptsitz des gleichnamigen Nahrungsmittelkonzerns.

Dieses Mal aber wird Wengers Weg in den Hauptsitz zu einem Bussgang. Die Chefin des Schweizer Bereichs muss gar befürchten, dass sie den langen Budgetprozess, der nun beginnt und Ende Jahr mit dem Entscheid des Verwaltungsrats abgeschlossen wird, beruflich nicht überlebt. Vier Männer entscheiden über ihr Schicksal (siehe Kasten Seite 57). Sie beurteilen, ob die Gründe, die Nelly Wenger für einen der grösseren Flops in der 140-jährigen Geschichte des Erfolgsunternehmens anführt, überzeugend sind oder nicht.

In den Reihen von Nestlé Schweiz, unter ehemaligen und noch aktiven Managern, werden Wengers Überlebenschancen im Konzern mit unter 50 Prozent angegeben. «Ich rechne damit, dass sie bis Weihnachten abgelöst wird», sagt ein Nestlé-Mann, der einst selbst die Verantwortung für eine Ländergesellschaft innehatte. Denn über Erfolg oder Misserfolg entscheiden bei Nestlé nur zwei Dinge: Umsatzwachstum und Rendite. Beim Zwischenstand von Ende September, der die Basis für das Budget 2007 bildet, wird Wenger deutlich unter den Vorgaben liegen. «Wenn man bei beidem ungenügend abschneidet, rollt meist der verantwortliche Kopf.»

Dass Wenger nach vielen Vorschusslor-beeren jetzt um ihr berufliches Überleben kämpfen muss, geht auf eine Entscheidung zurück, die sie im Februar präsentierte. Damals stellte die Kaderfrau für die in die Jahre gekommene Schokoladen- marke Cailler ein neues Verpackungskonzept vor, das von internationalen Stars aus Architektur und Haute Cuisine entwickelt worden war.

Der Schuss ging bekanntlich nach hinten los, und zwar mit voller Ladung. Statt mit Schokolade wie üblich rund 125 Millionen Franken einzunehmen, werden es in diesem Jahr voraussichtlich nur noch 100 Millionen sein, sagt ein Insider. Ein Rückgang um 20 Prozent. Vom Imageschaden ganz zu schweigen: Wenn sogar notorisch industriefreundliche Fachmagazine wie die deutsche «Neue Verpackung» von einem «Flop» schreibt, gibts nichts mehr zu beschönigen.

Erholung vom Flop dauert Jahre

In Nelly Wengers Lager gibt man sich nicht geschlagen. Sprecher Philippe Oertlé weist darauf hin, dass die entscheidenden Monate im Geschäft mit den Pralinen und Schokoladetafeln erst noch kommen. Rund 40 Prozent des Jahresumsatzes würden in die Zeit von Oktober bis Dezember fallen, frühestens Ende Jahr würde man die genauen Resultate kennen.

Dabei ist für Insider jetzt schon klar, dass es Jahre dauern wird, bis die mit der Neulancierung verfolgten Ziele – eine Verankerung im Premiumsegment und damit mehr Gewinn und eine höhere Rendite – erreicht werden. Falls überhaupt noch. Denn ein Rückschlag in diesem Ausmass setzt eine nachhaltig negative Abwärtsspirale in Gang: Die sinkende Nachfrage führt zu tiefer Auslastung der teuren Fabrikkapazitäten, die Marge bricht ein, der Pay-back der Investitionen rückt in weite Ferne. Allein für Werbespots und Plakate wurden bis zu zehn Millionen Franken ausgegeben, hinzu kommen die Millionen für die Plastikhüllen und die Umrüstung der Verpackungsmaschinen.

Nun fehlt das Geld andernorts. Kein Wunder, ist es nach der Cailler-Werbewelle ruhig um Schweizer Nestlé-Produkte geworden. Von der von Wenger angekündigten «Erneuerung» des Senfherstellers Thomy und der Glacemarke Frisco ist jedenfalls nichts zu sehen.

Nicht alles, was Wenger mit Cailler versucht hat, ist schiefgelaufen. So berichtet ein anderer Nestlé-Manager, dass just das wagemutigste der neuen Designs – die in durchsichtigen roten und schwarzen Stangen aus massivem Pet verpackten Frigor-Schokoladetäfelchen – den Geschmack des Schweizer Konsumenten treffen.

Doch der Frigor-Erfolg wird Wengers Alles-oder-nichts-Strategie kaum retten. Beim Basisprodukt, der Tafelschokolade, zeichnet sich laut dem gleichen Nestlé-Mann ein Waterloo ab, obwohl Coop und Manor noch im gewohnten Rahmen bestellen würden. Aber der Streit mit der zweitwichtigsten Wiederverkäuferin Denner bleibt ungelöst. Und wenn die Weihnachtseinkäufe wie erwartet schlecht ausfallen, kommt es im Januar zu Notverkäufen. Einen Vorgeschmack auf den zu erwartenden Preiseinbruch gibt derzeit Otto’s Warenposten: Für 6.95 Franken verramscht er derzeit das Fünferpack Cailler-Schokolade. Im Unterschied zu Frigor zählten bei der Tafelschokolade eben nur Geschmack und Preis, die Verpackung spiele keine Rolle, sagt ein langjähriger Nestlé-Manager. «Eine Tafel Schokolade ist ein Verbrauchs- und kein Kunstgut.»

Schonfristen sind unüblich

Die in die Ecke getriebene Nelly Wenger will offenbar auf Zeit spielen. Auf die Frage, wann sie selber ihr Urteil über Erfolg oder Misserfolg der neuen Cailler bekannt geben werde, sagt ein Nestlé-Sprecher: «So ein tief greifender Relaunch braucht mindestens zwei Jahre Zeit.» Solche Schon- fristen sind bei Nestlé unüblich. Es sei schon als «Geschenk» (ein von Nelly Wenger entlassener Kadermann) der Konzernleitung zu bezeichnen, dass Wenger für ihren grossen Cailler-Relaunch das Zugeständnis erhalten habe, vorübergehend tiefere Gesamtrenditen für ihren Bereich liefern zu müssen. «Normalerweise interessiert niemand, warum die Rendite sinkt. Ein Rückschlag in einem Segment muss in einem anderen wettgemacht werden.»

Noch wartet man in der Avenue Nestlé 55 mit harten Konsequenzen für Nelly Wenger ab. Denn der Plan, aus der Marke Cailler eine Premiummarke zu machen, die vor allem im Ausland erfolgreich sein soll, stammt nicht von der Schweiz-Chefin selbst. Die Konzernleitung unter CEO Peter Brabeck hatte beschlossen, einen entsprechenden Testlauf just in der Schweiz mit ihrem rekordhohen Pro-Kopf-Konsum von zwölf Kilogramm pro Jahr zu starten, wo Schokolade ein Allerweltsgut und sicher kein Luxus ist. Wenger muss hingegen für die mangelhafte Umsetzung des Experiments geradestehen. Sie verzichtete auf langwierige Konsumententests. Und sie ging nicht Schritt für Schritt vor – zuerst Umstellung bei Frigor, dann bei der Tafelschokolade -, sondern entschied sich für den Paukenschlag.

Nun bleibt Europa-Chef Luis Cantarell und CEO Brabeck ebenfalls nur noch die Wahl zwischen Sein oder Nichtsein. Der Ausweg einer Wegbeförderung von Wenger in eine Spezialeinheit, beispielsweise die Innovationsgruppe, steht kaum mehr offen. «Niemand würde verstehen, wenn Frau Wenger trotz ihrer schlechten Resultate und der vielen Personalabgänge mit einer Beförderung belohnt würde», sagt ein Ex-Manager.

Zumindest eine Hoffnung bleibt ihr: Brabeck zeichnet sich dadurch aus, nie unter Druck der Medien oder interner Kritiker zu entscheiden. Möglicherweise verdankt Nelly Wenger ihr Gnadenbrot ausgerechnet den Kritikern.

Sie entscheiden über Wengers Karriere bei Nestlé:

Rainer E. Gut, 74 Ex-Nestlé-Präsident

Der Entscheid, Wenger über die Köpfe vieler gestandener Nestlé-Manager hinweg zur Schweiz-Chefin zu krönen, geht hauptsächlich auf sein Konto. Legendär sind Guts «Audienzen» auf dem damaligen Gelände der Expo-02-Landesausstellung, von denen Teilnehmende heute erzählen, es sei auffällig gewesen, wie sich Gut von Wenger beeindrucken liess. Nestlé-intern ist unbestritten, dass der Präsident kurz vor seinem Ausscheiden Wengers Wahl durchgesetzt hat. Nun fehlt seine schützende Hand.

Peter Brabeck, 61 CEO und Präsident

Der Konzernchef setzte Nelly Wenger auf den prestigeträchtigen Schweizer Landeschefsessel, ohne die frühere lokale Führungscrew um deren Meinung zu fragen. «Herr Brabeck sagte uns, dass er solche Personalentscheide nicht mit uns zu besprechen gedenke», sagt ein inzwischen ausgeschiedener Kadermann. Weil sich Brabecks Präsidentenvorgänger Rainer E. Gut für Wenger starkmachte, kann sich der Nestlé-Chef trotzdem ohne Gesichtsverlust von seiner Schweiz-Chefin trennen.

Luis Cantarell, 54 Europa-Chef

Der direkte Vorgesetzte von Nelly Wenger hat nicht nur das grösste Gewicht, sondern auch den grössten Spielraum, wenn es um die Überlebensfrage von Wenger geht. Als nämlich die Konzernleitung Wenger in ihre heutige Position hievte, war Cantarell noch nicht der zuständige Europa-Chef. Deshalb kann er sie fallen lassen, ohne Schaden für die eigene Karriere zu riskieren. Nestlé-intern ist zu hören, Cantarell habe sich in den letzten Monaten intensiv mit dem «Thema Wenger» beschäftigt.

Paul Polmann, 50 Finanzchef

Wie stark sich der Favorit für Brabecks Nachfolge als CEO um die Probleme bei Nestlé Schweiz kümmert, ist nicht bekannt. Wichtig ist seine Stimme allemal. Der CFO gilt als angenehmer Kollege, der für Fehler und Misserfolg Verständnis zeige, falls ihn die Gründe überzeugten. So könnte der neue starke Mann bei Nestlé eine entscheidende Rolle bei der Frage nach Wengers Zukunft spielen. Sollte ihre Zukunft in der Konzernleitung umstritten sein, dürfte Polmanns Meinung den Ausschlag geben.


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