Einer für ganz oben

Paul Polman rennt Marathon und besteigt Berggipfel, und er würde der Nestlé-Konzernspitze nur zu gut tun. Der Finanzchef des Nahrungsmittelmultis ist der Kronfavorit für die Brabeck-Nachfolge.

Es war die erste grosse Bewährungsprobe für Nestlé-CFO Paul Polman. Schon seit Wochen arbeitete er zusammen mit M&A-Chef Jim Singh und dessen Team am Gebot für die Nutrition-Sparte von Novartis. Ein harter Kampf, denn 19 andere Interessenten boten ebenfalls um das Geschäft mit gesundheitsfördernder Nahrung. Am 14. Dezember konnte Polman seinem Chef Peter Brabeck Vollzug melden: Sein Team hatte alle Konkurrenten ausgestochen und den Zuschlag für das Milliardengeschäft erhalten. «Der Deal passt perfekt in die Nestlé-Strategie», jubelten anschliessend die Analysten, und die Anleger trieben den Kurs umgehend um zwei Prozent nach oben.

Dass Polman auf Nestlé-Seite einen Milliardendeal abwickeln würde, wäre noch vor kurzem undenkbar gewesen. Während 26 Jahren war er bei einem der grössten Konkurrenten am Ruder: Bis zum Westeuropachef von Procter & Gamble hatte es Polman geschafft, war Herr über 15 Milliarden Umsatz und verkaufte Marken wie Pringels, Always, Duracell oder Bounty. Bis er im Frühling 2005 überraschend sein Büro räumte. «Ich merkte, dass ich nochmals etwas Neues machen wollte», begründet er heute seinen Entscheid.

Nach einer kurzen Auszeit – mit Marathonläufen, Gipfelbesteigungen und dem Aufbau einer Charity – holte ihn Brabeck Anfang dieses Jahres als Finanzchef zu Nestlé. Kennen gelernt hatte er ihn in der Groupe d’Ouchy, einem dreimal jährlich in Lausanne hinter verschlossenen Türen stattfindenden Branchentreffen. Kaum hatte der Holländer seine Arbeit in Vevey aufgenommen, wurde er intern bereits als potenzieller Nachfolger von CEO Peter Brabeck gehandelt – Gerüchte, die sich nun zunehmend verdichten.

Die Entscheidung darüber, so sagen übereinstimmend mehrere Quellen aus dem Unternehmen, dürfte kommenden Frühling fallen. Dann soll der Konzern bekannt geben, wer ab dem Jahr 2008 an dessen operativer Spitze stehen wird. Polman, 50, ist im richtigen Alter und in der richtigen Funktion für den Sprung nach ganz[0] oben[0]. Als Finanzchef sieht er in alle Bereiche des Multis hinein. Seine Hand am Geldhahn ist eine wichtige Machtposition. Und er begleitet CEO Brabeck zu allen wichtigen Präsentationen vor grossen Investoren.

Selbst sagt er zwar, dass es bei seiner Verpflichtung vor Jahresfrist allein um die Stelle des Finanzchefs gegangen sei (siehe S. 74). Wer aber mit einstigen und jetzigen Kollegen über Polmans Qualitäten spricht, bekommt nur Gutes zu hören. Man traut ihm den Chefposten zu. «Ein schneller Denker, loyal, entschlossen, beeindruckend in seiner Leistung», beschreibt ihn ein Mitglied des Nestlé-Verwaltungsrats. Und fügt an, Polman verfüge, obwohl erst seit kurzem bei der Firma, über die «gleiche DNA» wie die langjährigen Kaderleute: «Er hat absolut Chancen, auf Brabeck zu folgen.»

Auch bei seiner Ex-Arbeitgeberin P&G wird Polman vorbehaltlos gelobt: «Er war bekannt für seinen dynamischen und visionären Führungsstil», sagt Frédérique Reeb-Landry von der europäischen Zentrale in Genf, wo Polman die vier letzten Jahre beim US-Konzern als Leiter verbrachte. Auch sein damaliger Direktunterstellter Willi Schwerdtle, Länderchef für Deutschland, Schweiz und Österreich, berichtet nur Positives. «Er hat alle guten Eigenschaften eines Holländers: sympathisch, weltoffen, multikulturell, sprachgewandt.» Neben Niederländisch und Englisch spricht Polman Französisch und Spanisch, Deutsch versteht er problemlos.

Schwerdtle lobt vor allem die unkomplizierte Art des «Weltbürgers» Polman ohne Dünkel und Hierarchiedenken. Seine Tür stehe für die Mitarbeiter aller Stufen stets offen. Er animiere die Leute zum Mitdenken und lasse unterschiedlichen Meinungen freien Raum. «Bei uns hat man ihn einfach gern gehabt», sagt Schwerdtle. Als «Low Key» beschreibt ihn Martin Naville, Präsident der Swiss-American Chamber of Commerce: «Ich vergesse nie, wie er in Genf von der hintersten Ecke eines Grossraumbüros aus zusammen mit seiner Sekretärin ein Milliardengeschäft führte.»

Die Schweiz ist ihm vertraut

Und das erfolgreich: Von 2001 bis 2005, als Polman für P&G-Westeuropa zuständig war, stieg der Umsatz seines Bereichs von geschätzten 10 auf rund 15 Milliarden Dollar. Der Konzern verbesserte in der gleichen Periode seinen Gewinn von 2,9 auf 7,3 Milliarden Dollar, auch dank Polman. Das akquisitionsbereinigte Wachstum von durchschnittlich 6 Prozent liegt während dieser Zeit über jenem von Nestlé.

Die Schweiz ist Polman vertraut. Nach seinem Wechsel nach Genf wurde er vorübergehend Präsident der Swiss-American Chamber of Commerce, wo er UBS-Chef Peter Wuffli und Zürich-CEO James Schiro kennen lernte. Er sass auch in der Vereinigung der europäischen Markenartikler. «Polman ist für mich das Gegenteil eines abgehobenen Topmanagers», sagt John-Peter Strebel von Valora Trade, der ihn dort traf. Strebel sagt, er habe in seiner Karriere nur selten Manager angetroffen, die sich nach so vielen Berufsjahren noch so für die Sache begeistern könnten.

Bei der Ausmarchung um den Nestlé-Chefposten sieht sich Polman starker Konkurrenz gegenüber (siehe S. 75). Seine Wahl wäre für Nestlé ein riesiger Sprung über den eigenen Schatten. Bisher galt als ungeschriebenes Gesetz, dass nur Eigengewächse ans Steuer des Riesenkonzerns gelassen werden. Für das Prinzip der Inzucht auf dem Chefposten scheint es gute Gründe zu geben. Die meisten Versuche, externe Topshots bei Nestlé erfolgreich einzupflanzen, scheiterten. Zu speziell ist die Kultur des grössten Nahrungsmittelherstellers der Welt. Polman mit seiner unaufdringlichen Art aber hat beste Chancen.

Ausweg aus der Zwickmühle

Für Brabeck gäbe es einen weiteren Grund, ihn als seinen Thronfolger zu portieren. Denn 2005 hatte er die Annahme seines umstrittenen Doppelmandates noch damit begründet, intern keinen geeigneten Nachfolger zu finden. Dass die gleichen Leute zwei Jahre später für den anspruchsvollsten Job der Schweizer Wirtschaft plötzlich geeignet sein sollen, scheint wenig glaubhaft. Die Nominierung von Quereinsteiger Polman wäre für Brabeck ein gesichtswahrender Ausweg aus der selbst geschaffenen Zwickmühle.

Polman könnte eine Chance für den Weltkonzern sein. Er hat weniger selbstherrliche Züge als Brabeck, den viele Nestlé-Mitarbeiter als abgehoben wahrnehmen. Offen den obersten Chef zu kritisieren, getraut sich kaum jemand bei Nestlé. Brabeck eilt der Ruf voraus, keine Widerrede zu tolerieren. Statt die Teamleistung zu betonen, liess er sich in den letzten Jahren gerne als erfolgreichen «Eroberer» ablichten. Die Leserschaft sah den Österreicher als mutigen Bergsteiger auf schmalen Berggipfeln und erfuhr von seinen Abenteuern als Hobbypilot und Motorradfahrer.

Polman kraxelt zwar auch Berge hoch, segelt und rennt. Aber er macht kein Aufheben davon. Dafür unterstützt seine Stiftung blinde Kinder in Afrika. «Einer wie Polman würde der Schweizer Konzernlandschaft gut tun, um vom Star-Kult um den übermächtigen CEO wegzukommen», sagt Naville.

Dass Polman keine halben Sachen macht, hat er vor fünf Jahren bewiesen. Damals wurde er, noch rundlich und träge, von Kollegen zum Joggen animiert. «In einem bestimmten Alter kommt man an einen Punkt, an dem man sein Leben reflektiert und sich überlegt, wie man die restliche Strecke absolvieren will», begründet er seinen neu entdeckten Sportsgeist. Inzwischen läuft er jedes Jahr drei Marathonrennen. Seine Bestzeit: 3 Stunden und 53 Minuten. Auch im Rennen um den Chefsessel darf man Polman noch einiges zutrauen.

Wichtigste Weichenstellung in der Geschichte

Nestlé hat von Novartis die Sparte medizinische Ernährung gekauft. Finanzchef Paul Polman über Kosten, Konkurrenten und Karriere.

Facts: Herr Polmann, Nestlé bezahlt 2,5 Milliarden Dollar für einen Bereich, den Novartis selbst vor wenigen Jahren für 385 Millionen erworben hat. Haben Sie überzahlt?

Paul Polman: Die Börse ist anderer Meinung, die Nestlé-Aktie stieg seit Bekanntgabe des Deals stärker als vergleichbare Titel. Erstens umfasst das Geschäft mehr als das, was Novartis 2003 gekauft hat. Und zweitens hat Novartis den Bereich auf Vordermann gebracht.

Facts: Zuletzt war es ein Zweikampf zwischen Ihnen und einem Konkurrenten. Liessen Sie sich hochtreiben?

Polman: Wir wissen, was es heisst, Firmen zu kaufen. Da sind wir diszipliniert. Wir schauen, wie gut die zu kaufende Firma rentiert, wie sie im Markt positioniert ist und welche Synergien wir erzielen können. Jedes Jahr verzichten wir auf Käufe, weil uns der Preis zu hoch scheint.

Facts: Was macht diese Übernahme so wichtig für Nestlé?

Polman: Wir springen in einem unserer Zukunftsmärkte vom global fünften auf den zweiten Platz. Es geht um einen 10-Milliarden-Dollar-Markt, der jährlich um 7 Prozent wächst. Dass wir hier eine führende Position einnehmen können, ist von nicht zu überschätzender strategischer Bedeutung. Wenn wir in ein paar Jahren zurückschauen, werden wir erkennen, dass dieser Kauf eine der wichtigsten Weichenstellungen in der jüngeren Geschichte Nestlés gewesen ist.

Facts: Dabei kaufen und verkaufen Sie doch Firmen am Laufmeter.

Polman: Die kleineren Käufe summieren sich pro Jahr auf eine Milliarde Dollar. So eine 2,5-Milliarden-Dollar-Transaktion ist also selbst für uns ein grosser Schritt. Deshalb war auch ein grosses Team unter der Führung meines M&A-Verantwortlichen Jim Singh während Wochen mit Analysen beschäftigt.

Facts: Nestlé will ein Wellness-Konzern werden, Danone und Unilever gehen den gleichen Weg. Ist es Erfolg versprechend, wenn alle das Gleiche tun?

Polman: Ja. Es geht ja nicht um ein Gegeneinander, alle sollen zufrieden werden. Entscheidend ist, was der Konsument will und wie gut eine Firma diesbezüglich positioniert ist. Da glaube ich, dass Nestlé mit fast 100 Milliarden Umsatz und der finanziellen Kraft, die daraus für die Forschung und Entwicklung resultiert, für die Zukunft bereit ist.

Facts: Wie passen die vielen Kaffee- und Schokoladen-Marken ins Bild eines Gesundheitskonzerns?

Polman: In Asien haben wir soeben eine neue Kaffeemarke lanciert, welche die Abwehrkräfte stärkt. Und bei den Schokoladen stärken wir Diätsorten. Bei den Glaces offerieren wir neue, fettarme Sorten, die trotzdem geschmackvoll sind. In diesem klassischen Bereich geht es also darum, die Produkte an die veränderten Konsumbedürfnisse anzupassen. Evolution statt Revolution.

Facts: Sie waren 26 Jahre lang beim US-Markenartikler Procter & Gamble. Was ist bei Nestlé anders?

Polman: Beides sind grossartige Firmen, beide weltweit führend, die eine in den USA zu Hause, die andere im Herzen Europas. Sie verfügen über starke Managementteams, eine herausragende Führung und klare Prinzipien. Das sind Firmen, die gebaut sind, um lange zu überleben. Der Unterschied liegt bei den Produkten. Bei P&G kann vieles zentral erledigt werden, bei Nestlé müssen wir uns überlegen, was wir lokal erbringen wollen und was regional oder global. Zudem könnten wir in Zukunft mehr Geld in Forschung und Entwicklung stecken.

Facts: Wenn beide Firmen so toll sind: Warum wechselten Sie zu Nestlé?

Polman: Ich merkte, dass ich eine neue Herausforderung brauchte. Als Europachef gelang es, P&G Europa wieder auf einen gesunden Wachstumspfad zu bringen. Dann wurde ich ein wenig träge. Und wenn man gegen 50 geht, fragt man sich, was man noch anpacken kann. Dann kam dieses Angebot von Peter Brabeck, vor dem ich grossen Respekt habe. Für mich ist er einer der besten CEOs der Welt. Seine Jobofferte empfand ich als grosse Ehre.

Facts: Ging es dabei allein um den Job des Finanzchefs, oder wurde auch über weitere Karriereschritte gesprochen?

Polman: Ich weiss, worauf Sie hinauswollen. Es ging nur um den CFO-Job. Das ist anspruchsvoll genug. Sowieso kann man nicht erfolgreich sein, wenn man sich nicht zu 100 Prozent für seine Aufgabe ins Zeug legt. Was meine Zukunft angeht: Ich muss niemandem mehr etwas beweisen. Meine Rolle ist es, anderen Leuten zum Erfolg zu verhelfen.

Paul Polman, 50

Der Nestlé-Finanzchef stammt aus dem holländischen Enschede, studierte in Groningen und machte seinen MBA in Cincinnati. Vor seinem Nestlé-Engagement arbeitete er für den Konsumgütermulti Procter & Gamble rund um die Welt, zuletzt als Westeuropachef in Genf. Der Segler und Marathonläufer hat drei Kinder.

Babymilch-Boykott

Unter Generaldirektor Arthur Fürer geriet der Nahrungsmittelkonzern in eine der schwersten Krisen. «Nestlé tötet Babys», lautete die Überschrift eines stark beachteten Artikels einer Hilfsorganisation 1974, wonach die Schweizer mit aggressiver Werbung Brustmilchersatzprodukte in Drittweltländern vermarkten würden. Ab 1977 wurden Nestlé-Babymilchprodukte boykottiert. Nestlé klagte, doch ein Gericht kam zum Schluss, dass die Werbepraktiken anzupassen seien. Fürer war vom Typ her ein Beamter, ein Zahlenmensch, bei dem nicht Nestlé als Dachmarke im Vordergrund stand, sondern die einzelnen Produkte.

Going global

Der charismatische Deutsche Helmut Maucher wurde in seiner Chefzeit ab 1981 zur Lichtgestalt der jüngeren Nestlé-Geschichte. Mit seinem horrenden Akquisitionstempo verdoppelte Maucher den Umsatz und vervierfachte den Gewinn. Für 33 Milliarden Franken kaufte er neue Unternehmen, für 7,5 Milliarden devestierte er solche, die nicht mehr in die Strategie passten. Maucher stellte die Dachmarke Nestlé in den Vordergrund, sie erschien nun prominent auf fast allen Produkten. Er baute neue Unternehmenspfeiler, beispielsweise den Bereich Wasser durch den Kauf der französischen Perrier, und er vergrösserte die Marktmacht, zum Beispiel dank der amerikanischen Carnation (Milchprodukte und Tiernahrung), die Maucher als ersten grossen Coup 1985 für 3,5 Milliarden Dollar erwarb.

Mister Wellness

Das schwierige Erbe von Übervater Maucher trat mit dem Österreicher Peter Brabeck, 62, einer an, dem es ebenfalls nicht an Selbstbewusstsein mangelt. Im Gegenteil, unter Brabeck verstärkte sich die Tendenz, dass der Chef immer Recht hat. So drückte er die Wahl von Nelly Wenger zur Nestlé-Schweiz-Chefin ohne richtiges Assessment durch, und niemand getraute sich, Kritik zu äussern. Im Unterschied zum hochgelobten Vorgänger konnte Brabeck nicht die Welt erobern, sondern musste die Einzelteile zu einem effizienten Ganzen bündeln. Der Hobbypilot entmachtete die Länderchefs, die er als Bremser empfand, initiierte Sparprogramme und verkündete den Umbau in einen Wellness-Konzern. Die Stossrichtung stimmt, nur gehen die Konkurrenten Danone und Unilever den gleichen Weg.

Der Neue

Drei Nestlé-Generaldirektoren werden die grössten Chancen eingeräumt, im Frühling 2007 zum CEO gekürt zu werden. Neben Finanzchef Paul Polman (50 Jahre alt, Holland) sind dies Amerika-Leiter Paul Bulcke (52, Belgien) und Europa-Zonenchef Luis Cantarell (54, Spanien). Lediglich Aussenseiterchancen soll Marketingchef Lars Olofsson (55, Schweden) haben, der von seiner früheren Position als Chef Europa seitwärts versetzt wurde. Bulcke machte unter CEO Peter Brabeck die steilste Karriere aller Nestlé-Topmanager, er ist der Shootingstar der 13-köpfigen Generaldirektion, Cantarell gilt Nestlé-intern als aussergewöhnlich intelligenter Kopf. Negativ zu Buche schlägt seine geringe Erfahrung an der Front. Er war lediglich eine Zeit lang Chef von Nestlé Portugal.


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