Der Diktator von Turin

Der Italo-Kanadier Sergio Marchionne kannte das Autogeschäft nur als Maserati-Fahrer. Jetzt hat er Fiat in die Gewinnzone zurück gebracht – mit in der Schweiz erprobten Mitteln

Die Mitarbeiterin des Management Symposiums im schweizerischen Sankt-Gallen schaut nervös auf die Uhr. Längst hätte der diesjährige Stargast aufkreuzen müssen. Endlich. Eine schwarze Lancia-Limousine fährt vor, aus deren Fond ein grau-melierter Mittfünfziger steigt, der in elegantes Tuch gekleidet ist und die Kravatte leger um den Hals gebunden hat. Die Würdenträger der Universität, die sich an diesem kalten Mai-Morgen die Füsse in den Bauch stehen, machen einen Bückling und greifen unterwürfig nach seiner Hand, die mitgereisten Begleiter wieseln herum. Nur er selbst, Fiat-Chef Sergio Marchionne, dem die ganze Aufmerksamkeit gilt, schlendert nonchalant Richtung Vortragssaal – als ginge ihn der Rummel nichts an.

– Herr Marchionne, wie fühlt man sich als Manager-Superstar?
Ich bin kein Star.
– Die Welt betrachtet Sie als Retter von Fiat.
Die Menschen sagen viel. Was ich tat ist, ein paar gute Leute zusammen zu setzen und das Problem zu lösen. Die sind die Zukunft von Fiat. Schauen Sie mich an, ich bin ein alter Knacker.

Das Tiefstapeln gehört zu den Allüren jenes Mannes, der in den vergangenen zwei Jahren Italiens Industrie-Ikone vom Sterbebett zurück auf die Strasse gestellt hat. Als der Autokonzern im Sommer 2004 kurz vor dem finanziellen Kollaps stand, setzte der dominierende Agnelli-Clan Marchionne als letzten Hoffnungsträger an die operative Spitze. Heute liegt Fiat wieder gut im Rennen, schreibt schwarze Zahlen und erzielte im laufenden Jahr in Westeuropa einen Marktanteil von fast 9 Prozent, einen Prozentpunkt mehr als im Vorjahr und Platz sechs in der Hersteller-Rangliste.

Der 54-Jährige scheint die eigene Leistung absichtlich kleinzureden. Je weniger sein ausgeprägtes Selbstvertrauen, das zur Selbstherrlichkeit tendiert, in der Öffentlichkeit thematisiert wird, desto leichter fällt es dem harten Sanierer, hinter den Unternehmensmauern seinen Willen durchzusetzen. Denn was richtig und was falsch ist, bestimmt nur einer: Sergio Marchionne. Das gilt erst recht, seit es Fiat unter seiner Führung wieder gut geht.

Das ausgeprägte Gefühl von Unfehlbarkeit und Überlegenheit bleibt nicht ohne Folgen. Starke Charaktere, die ebenfalls einen erfolgreichen Berufsweg hinter sich haben und sich gewohnt sind, für ihre Meinungen zu kämpfen, erträgt es neben „Sergio dem Grossen“ keine. „Hätten wir gemeinsam eine exekutive Funktion ausgeübt, dann hätten wir bestimmt einige Konflikte gehabt“, sagt der Schweizer Industrielle Max Amstutz, der als Präsident bei der Genfer Warenprüfgesellschaft SGS eine Zeitlang Marchionnes Vorgesetzter war. „Vermutlich wären wir rasch an den Punkt gelangt, an dem die Frage gelautet hätte: Er oder ich.“

Der Aufstieg des begnadeten Turnaround-Managers begann vor zehn Jahren bei der Schweizer Rohstoff- und Chemikalienproduzentin Alusuisse-Lonza. Eigentlich hätte die introvertierte Französin Dominique Damon neue Konzernchefin werden sollen, doch sie war den bodenständigen Kaderleuten zu elitär. Finanzchef Marchionne hingegen kam bei den Kollegen mit seiner Respektlosigkeit gegenüber der Kronprinzessin an.

Einmal an der Macht, war Marchionne nicht mehr zu stoppen. „Ich war ja selbst ein Marathonläufer, aber mit Marchionne konnte ich nicht mithalten“, erinnert sich Hans Jucker, langjähriger Präsident von Alusuisse-Lonza, der den damals 44-Jährigen zum Konzernleitungs-Job verhalf. „Er hielt das Rad ständig am Rotieren, war immer auf Achse, ein extrem fleissiger CEO. Oft sah ich spät in der Nacht das Licht in seinem Büro in der Zentrale brennen. Schon damals rauchte er wie ein Schlot und schlief wenig. Aber irgendwie muss er eine körperliche Konstitution haben, die ihn wahnsinnig belastbar macht.“

Immer noch Raucher, dazu einer, der gerne gut isst und italienischen Rotwein geniesst – damit verkörpert Marchionne nicht gerade jenen Typ Spitzenmanager, der sich durch gesundes Leben und sportliche Aktivitäten in Form hält. Das Rezept des Liebhabers schneller Autos – in seiner Privatgarage stehen mehrere Maseratis und Ferraris – lautet anders. Er hat das Schlafen quasi aufgegeben. „Das ist das Beste, was Sie tun können, um nicht älter zu werden“, schwärmt er. Dann folgen Sätze, die er mit seiner Bariton-Stimme mit einem heiligen Ernst ausspricht: „Ich stehe für meine Arbeit auf, ich liebe sie. Ja, ich liebe sie.“

Nach zwei Jahren an der Alusuisse-Spitze lüftete Vielschaffer Marchionne den Schleier und präsentierte Ende 1998 einen Ausweg aus dem Dilemma der fehlenden Grösse. Die Schweizer sollten sich mit dem deutschen Industriekonglomerat Viag zusammenschliessen. Doch die Trennung erfolgte noch vor der Heirat. Der damals bereits pensionierte Hans Jucker macht Marchionne keine Vorwürfe. „Im Prinzip hatte er Recht, die Alusuisse in einen grösseren Verbund zu führen. Auch wir führten schon früher Fusionsgespräche. Doch mit der deutschen Viag wählte er die falsche Partnerin aus.“ Viag sei verbeamtet und teilweise marode gewesen.

Das Scheitern hätte für andere Manager persönliche Konsequenzen haben können. Nicht für Marchionne, der keinen Gedanken an ein vorzeitiges Abtreten verschwendete. Er ist nicht nur von seinem Intellekt und der Schaffenskraft überzeugt, sondern auch von seinen strategischen Fähigkeiten. „Marchionne“, sagt Jucker, „konnte einen seine Überlegenheit schon spüren lassen. Er ist im guten Sinne ein absoluter Diktator.“ Im Sommer 1999 trug Marchionne fast im Alleingang ein Stück helvetische Industriegeschichte zu Grabe. Er verkaufte dem kanadischen Giganten Alcan den Aluminiumteil und brachte den übrig bleibenden Chemieteil unter dem Namen Lonza als eigenständiges Unternehmen an die Börse.

Dass die Investorenschaft grosse Stücke auf den wirbligen Firmenjonglierer hält, zeigte sich 2002, als Marchionne von der Basler Lonza an die Spitze der SGS nach Genf zog. Die Aktie der Warenprüfgesellschaft schoss bei Bekanntgabe der Personalie steil nach oben. Seither geht die Rede vom Marchionne-Effekt um.

Sofort machte der neue CEO das, was er immer tut, wenn er als Ausmister und Restrukturierer geholt wird. Und jedes Mal noch ein bisschen schneller und konsequenter. Er ersetzte die alte Konzernleitung mit einem breit aufgestellten, zwanzigköpfigen Management-Team, versammelte so das gesamte Unternehmenswissen an seinem Tisch, konnte den Finger auf die wunden Stellen legen und wusste frühzeitig, wo der Sanierungszug ins Stocken geriet.

Das sind die Vorteile. Der Nachteil des marchionneschen Führungsprinzips ist, dass sich der Chef um zu viele Details kümmert. Bei der Alusuisse-Lonza wussten die Mitarbeiter, dass sich ihr CEO für Autos interessiert. Als die Beschaffung eines neuen Minibusses anstand, überliessen sie selbst diesen unbedeutenden Entscheid dem Konzernchef. Der hatte selbstverständlich eine klare Meinung: Ein Modell von Mercedes musste es sein.

Alessandro Baldi, ein Finanzfachmann, der Marchionne überallhin folgt, spricht vom Vorbildcharakter seines Chefs. „Er verlangt viel von den Leuten. Aber am meisten verlangt er von sich selbst. Bei Topmanagern heisst es ja schnell, sie würden nur vier Stunden schlafen. Bei ihm trifft das wahrscheinlich tatsächlich zu.“ Unter dem früheren Fiat-Management hätten die Nachwuchsmanager das Gefühl gehabt, ihr Effort würde sich nicht auszahlen. Heute wüssten sie, dass Marchionne am meisten leiste und alle belohne, die mitzögen.

Er sehe sich als Coach seiner Crew, skizziert Marchionne sein Art des Führens. Und erzählt vom Grande Punto, dank dem Fiat heute wieder Gewinn schreibt. „Als mir die Manager den orangen Punto zeigten, mit dem sie das neue Modell lancieren wollten, sagte ich: Was soll das, der ist orange! Sie antworteten: Großartige Farbe, die Käufer werden sie lieben. Was sollte ich sagen, ich habe keine Ahnung, was ankommt und was nicht.“

Auf das grosse Reinemachen in der Chefetage folgt jeweils die Zerschlagung der Hierarchiestufen. Bei der SGS in Genf und danach bei Fiat gab es zwischen dem obersten Boss und dem Arbeiter in der Fabrik oder draussen in der Welt eine Kaskade von zehn Vorgesetzten. Heute sind es in beiden Unternehmen noch halb so viele. Die kurzen Wege sind nicht nur bildlich gemeint: Es kann vorkommen, dass ein Fiat-Arbeiter am Montageband eines Morgens unangekündigten Besuch seines Firmenlenkers kriegt.

Abgebaut werden vor allem Positionen im Management. Wie ein Wirbelwind fegt Marchionne durch die Stabsabteilungen und wirft unnötigen Ballast ab. „Für ihn sind zentrale Stäbe nur noch zur Unterstützung der Businessbereiche da“, sagt Alessandro Baldi, der als Finanzfachmann bei Fiat selbst zu so einer Abteilung zählt.

Mit der Verbreiterung der Konzerspitze und der Zerschlagung der Bürokratie geht die Implementierung einer neuen Firmenkultur einher. Der Fiat-Vorsitzende liebt es, das Lied von Eigenverantwortung, Ehrlichkeit, Fairness und Mut zum Risiko zu singen. Geht an die Grenzen, probiert Neues aus, schreibt er seinen Schützlingen ins Pflichtenheft. „Zu Weihnachten schickte mir Sergio eine Postkarte“, erzählte Luca De Meo, Chef der Automarke Fiat am Rande des diesjährigen Genfer Autosalons. „Darauf stand geschrieben: IBM sagte mal, Kultur sei Teil des Spiels. Nun, Kultur ist das Spiel.“

Nicht, dass alle lieb und nett miteinander sein sollten. Ziel ist vielmehr, dass sich seine Weggefährten an konkreten Vorgaben messen lassen. Und zwar an ambitiösen. „Ein halber Zentimeter pro Tag löst schliesslich kein Problem in der Geschäftswelt“, sagt Marchionne.

Um Grenzen zu verschieben, geht der Mann ungewohnte Wege. In der Zürcher Zentrale der Alusuisse-Lonza, wo der Schnellsprecher Mitte der 90er Jahre aus Kanada kommend gelandet war, brüteten Kaderleute seit Urzeiten hinter verschlossenen Türen über ihren Marketingplänen und Konzernabschlüssen. Jahrein, jahraus. Bis zu jenem Tag Ende 1994, als die alte Welt auf einen Schlag unterging. „Plötzlich waren alle Türen offen, und vom obereren Stock erklang der helle Gesang von Maria Callas“, erinnert sich Alessandro Baldi, der damals in der Revision tätig war. Als Baldi die Stimme der Operndiva vernahm, wusste er sofort, woher die Klänge kamen. Nur einer konnte sich erlauben, die Welt aus den Fugen zu heben.

Personenbox:

Marchionne war Finanzchef der kanadischen Verpackungsfirma Lawson Mardon, als diese 1994 von der schweizerischen Alusuisse-Lonza übernommen wurde. Ende 1996 wurde der Italo-Kanadier Konzernleiter der Alusuisse, zwei Jahre später plante er, das Unternehmen dem deutschen Industriekonglomerat Viag zu verkaufen. Das Vorhaben scheiterte am Preis. Im Sommer 1999 landete Alusuisse bei der kanadischen Alcan, Lonza wurde verselbständigt, Marchionne deren Chef. 2002 wechselte der studierte Ökonom mit zusätzlichem Philosophieabschluss zur Genfer Warenprüfgesellschaft SGS, bevor er am 1. Juni 2004 zur Rettung von Fiat nach Turin gerufen wurde. Er ist Verwaltungsratspräsident bei SGS und sitzt im Aufsichtsrat des deutschen Baukonzerns Hochtief. Marchionne hat zwei Kinder und lebt im steuergünstigen Schweizer Kanton Zug.


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