Eine Nation auf der Couch

In Hansjürg Zumsteins «Swissair»-Film, der am Donnerstagabend im Schweizer Fernsehen ausgestrahlt wurde, taucht aus den Tiefen des Archivs für einen kurzen Moment Otto Loepfe auf. Die Szene zeigt den Ex-Swissair-CEO, wie er Allianzen vor den Medien als lebensnotwendig für seine Airline bezeichnet. Doch in dem Moment erregt nicht der grau melierte Loepfe meine Aufmerksamkeit, sondern ein Mikrofon mit einer Aufschrift aus einer längst untergegangenen Epoche. Wer erinnert sich noch an den Winterthurer Lokalsender «Radio Eulach», der 1998 im Ostschweizer Verbund «Top» aufging? Obwohl: Das liegt nicht viel länger zurück als das Ende der Swissair.

Während heute kein Hahn mehr nach Eulach kräht, läuft die publizistische Bewältigung des Swissair-Dramas immer noch auf Hochtouren. Seit dem abrupten Stillstand unseres Zürcher Aviatikräderwerks im Herbst 2001 wurden mehrere Bücher geschrieben, ein Spielfilm hat Anfang Jahr nicht verheilte emotionale Wunden aufgerissen, nun doppelt das Schweizer Fernsehen mit seinem Doku-Zweiteiler nach. Auch die Presse zelebriert den 5. Jahrestag des Groundings. Wenn im Januar der Strafprozess gegen die Verantwortlichen beginnt, dürfte der Zeiger auf der nach oben offenen Medienskala eine neue Rekordmarke erreichen.

Die Bild- und Wortlawine nach dem Airline-Untergang wirft zwei Fragen auf. Was drängt uns dazu, wieder und wieder den längst breit gewalzten Fall zu thematisieren? Und zweitens: Was ist das Resultat dieser Verarbeitung eines wirtschaftlichen Grossflops?

Die national veranstaltete Psychoanalyse eines grandiosen Scheiterns, das abgesehen vom Verlust einiger Arbeitsplätze und von viel Geld keinen nachhaltigen Schaden angerichtet hat, könnte damit zusammenhängen, dass wir Schweizerinnen und Schweizer uns mitschuldig fühlen. Nicht im Sinne, dass wir für die Wahl der verheerenden Expansionsstrategie und deren schlampige Umsetzung verantwortlich wären. Nein, unsere Mitschuld könnte darin liegen, dass wir die Anzeichen der Krise ignorierten, ein rechtzeitiges Zusammengehen mit anderen Airlines hintertrieben, stolz auf die Wirtschaftspotenz unseres Landes waren und diese durch eine grosse, eigenständige Airline auf der ganzen Welt repräsentiert wissen wollten. Weil wir – das Volk – von den Swissair-Verantwortlichen allen Widrigkeiten zum Trotz einen erfolgreichen Alleingang forderten, schlummert tief in uns eine dunkle Ahnung: dass nämlich das Debakel ohne unser eigenes Zutun nicht in dieser Dimension hätte geschehen können. Und so plagt uns, die wir vieles hätten wissen können, das schlechte Gewissen.

Einige kritische Zeitgenossen warnten schon früh vor einem Irrflug. Beispielsweise fand mein Kollege Arthur Rutishauser von der «SonntagsZeitung» heraus, dass die Swissair-Führung Pensionskassengelder für ihre riskanten Geschäftsmanöver abzweigte. Ihm kamen früh ernste Zweifel am Geschäftsmodell des Airlinekonzerns, die er in der Folge in seiner Zeitung ausführte. Auch der Journalist Sepp Moser malte düstere Prognosen, als diese noch niemand hören wollte. Der Dokfilm des Schweizer Fernsehens zeigt ein Zwiegespräch zwischen Moser und Ex-Swissair-Sprecherin Beatrice Tschanz vom Sommer 2000. Man sieht Moser, wie er von immensen Verlusten spricht, von Chaos und Ohnmacht auf der Chefetage. Darauf hält Tschanz eine Zeitschrift in die Höhe: «Aviation Week, die Bibel der Flugindustrie», triumphiert die Kommunikationschefin: «Dieses Magazin bezeichnet die Swissair in seiner neusten Ausgabe als die am besten geführte Luftfahrtgesellschaft.» Und schon zerstreut Tschanz mit einem Schönheitsköniginnen-Lächeln im Gesicht alle Bedenken eines Publikums, das sich scheinbar noch so gern an der Nase herumführen lässt.

Diese Airline war keine normale Firma. Sie galt jahrelang als beliebteste Arbeitgeberin für Studienabgänger, auf den Heckflossen ihrer Flugzeuge flog sie die Marke Schweiz in die Welt hinaus, sie verkörperte den helvetischen Anspruch auf Topqualität und Zuverlässigkeit. Die Swissair war die Schweiz, und wir waren die Swissair. Diese Institution durfte nicht fallieren, denn mit ihr würde unser Selbstverständnis Schaden nehmen, unser Bild von einer starken, unabhängigen und funktionierenden Schweiz.

Als die Swissair schliesslich das Zeitliche segnete, reagierten wir ungläubig, wütend, trotzig – in dieser Reihenfolge. Ungläubig schauten wir zu, wie am Dienstag, dem 2. Oktober, kurz nach halb vier, den Passagieren im Flughafen Kloten per Lautsprecher verkündet wurde, dass der Swissair das Geld fehle, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Man solle sich doch bitte nach Alternativen umsehen.

Ein erniedrigenderes Eingeständnis des Scheiterns hat es in der Wirtschaftswelt selten gegeben. Der Zorn entlud sich über den vermeintlich Schuldigen, die geizigen Grossbanken, die egoistische Crossair, die gescheiterte Wirtschaftselite. Schliesslich öffneten wir trotzig unseren Geldbeutel und schmissen vier Milliarden Franken für einen zum Scheitern verurteilten Neustart zum Fenster hinaus.

Von nüchterner Verarbeitung, der Suche nach Lehren aus dem Missgeschick – davon war lange nichts zu spüren. Noch im Sommer 2003 verhinderten Heckenschützen via Medien den Verkauf der Swiss an die Lufthansa. Erst zwei Jahre später, möglicherweise kurz vor einem zweiten Grounding, fanden die Schweizer und ihr politisches Spitzenpersonal zur Vernunft und akzeptierten das zweite Angebot aus Deutschland. Zwischen dem Grounding der Swissair und dem Verkauf der Swiss lag die Nation Schweiz vier lange Jahre auf der Couch. Offensichtlich war die lange Zeit nötig für die Verarbeitung des Schocks. Seither aber kann uns ein Unternehmensverkauf ins Ausland nicht mehr sonderlich aufwühlen, egal, ob es sich um eine Industriefirma wie Saia Burgess oder um einen Versicherungskonzern wie Winterthur handelt. Die Öffentlichkeit hat begriffen, dass bei solchen Übernahmekandidaten die entscheidenden Fehler viel früher begangen wurden. Das schmerzhafte Abschiedneh men von der Swissair hat somit doch noch sein Gutes. Es hat dazu beigetragen, dass sich in der Schweiz eine Erkenntnis durchsetzen konnte, die im übrigen Europa noch nicht allzu verbreitet ist. Dass nämlich zu viel staatlicher Schutz und zu viel öffentliche Anteilnahme – oft unter dem Schlagwort Heimatschutz – einem im harten Wettbewerb stehenden Unternehmen auf Dauer schlecht bekommen.


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