«Meine Heroin war Maggie Thatcher»

Ob die Winterthur-Versicherung verkauft wird, ist eine Frage des Preises. Warum ihr Chef, Leonhard Fischer, nicht Politiker wurde, ist eine Frage des Herzens: Der Deutsche liebt das Unternehmertum wie sich selbst. Er wär wohl auch zu schnell für die CDU.

Herr Fischer, mit 35 waren Sie in der Chefetage der Dresdner Bank, mit 40 wurden Sie Konzernchef der «Winterthur». Haben Sie nie Angst vor dem Versagen?

Angst nicht, das wäre der falsche Ausdruck. Eine gewisse Grundspannung verspüre ich aber schon. Wenn ich wirklich Angst hätte, könnte ich meine Aufgabe nicht erfüllen.

Was macht Sie so selbstsicher?

Selbstvertrauen hilft. Ebenso braucht man aber die nötige Demut und das Wissen, dass das Schicksal nicht nur in der eigenen Hand liegt. An erster Stelle steht der absolute Wille, der Drang und die Begeisterung, gestalten zu wollen. Das gibt mir den nötigen Antrieb.

Wie wichtig ist Ihnen das Obenbleiben?

Obenbleiben ist kein Selbstzweck. Wer Macht hat, geniesst das Privileg, sie nutzen zu können. Wer nicht weiss, was mit ihr anfangen, für den ist sie nutzlos. Sie hilft nur dem, der Ideen hat und den Willen, diese umzusetzen. Zugleich braucht es Bescheidenheit, sonst korrigiert man seine Fehler nicht rechtzeitig.

Als Schüler gaben Sie zusammen mit dem heutigen Bild-Chefredaktor Kai Diekmann eine Zeitung heraus. Verspürten Sie schon damals Lust aufs Gestalten?

Ich denke schon. Etwas verkaufen, gestalten, bewegen ­ die Börse, die Wirtschaft: All das hat mich früh interessiert.

Lag das in der Familie, oder fanden Sie Inspiration auf dem Pausenplatz?

Auf dem Pausenplatz gab es in den «linken» siebziger Jahren kaum derartige Inspirationen. Da wurden ganz andere Themen diskutiert.

Hatten Sie einfach zu viel Taschengeld, dass Sie mit Herrn Diekmann zusammen eine Schülerzeitung produzieren konnten?

Unser Taschengeld hätte allenfalls für fünfzig fotokopierte A-4-Blätter gereicht, aber sicher nicht für eine Zeitung mit 30000 Exemplaren. Ich interessierte mich halt einfach früh für Politik und war stets neugierig auf das, was um mich herum geschieht. Und wenn ich von einer Idee überzeugt bin, dann will ich sie umsetzen. Wir wollten eine Schülerzeitung mit einem anderen ideologischen Schwerpunkt machen ­ einem bürgerlichen, würde man heute sagen.

Und damit wollten Sie gegen den links-grünen Mainstream antreten?

Meine Heroin war Maggie Thatcher. Die war damals in Deutschland nicht ganz so populär. Auch Ronald Reagan, für den ich mich begeisterte, war nicht wirklich beliebt.

Wie können Reagan und Thatcher einen 16-jährigen Schüler begeistern?

Sie standen für Aufbruch. Denken Sie zurück ans Ende der siebziger Jahre. Alle sprachen von den Grenzen des Wachstums, alle hatten eine kulturpessimistische Grundhaltung. Sie war bei uns in Deutschland besonders stark zu spüren, und sie wurde auch in der Schule vermittelt. Thatcher und Reagan standen für den radikalen Bruch mit dieser verstockten Denkrichtung. Sie bedeuteten individuelle Freiheit und den Willen, Dinge zu verändern. Freiheit statt Bürokratie und Kontrolle, die Menschen sollten ihr Schicksal wieder selber in die Hände nehmen. Wie sich herausstellte, hatten die beiden Recht.

Sie sind ein Aussenseiter geblieben, nicht nur in der Schule. In Deutschland hat sich der angelsächsische Liberalismus nicht durchgesetzt.

Ja, leider. Dass der Aufbruch nicht stattfand, sehen Sie auch an den Wachstumsraten. Zur Ehrenrettung der politischen Eliten Deutschlands muss gesagt sein, dass das Land Mitte der achtziger Jahre einen ähnlichen Weg einschlagen wollte, natürlich nicht mit dem gleich konsequenten Wirtschaftsliberalismus. Mit der Wiedervereinigung und der europäischen Integration hat sich die Prioritätssetzung in der Politik aber für lange Zeit verändert, und das Entschlackungsprogramm wurde verschoben. Heute bezahlt Deutschland einen hohen Preis, indem es seit zehn Jahren kaum noch Wachstum hat.

Inzwischen versucht die Regierung, das Land aus dem Sumpf zu ziehen. Für welche Partei würden Sie politisch aktiv werden?

Ich bin ja Parteimitglied, bei der CDU. Als Staatsbürger finde ich es richtig, in einer Partei zu sein. Das staatspolitische Engagement findet in Deutschland nun mal über die Parteien statt.

Was müsste die CDU tun, um Deutschland vorwärts zu bringen?

Darüber wollen Sie ernsthaft mit mir diskutieren?

Warum nicht? Ist es Ihnen unangenehm, darüber öffentlich zu sprechen?

Nein, nur sollte man anderen Leuten in der Öffentlichkeit keine Ratschläge erteilen. Deshalb wüsste ich nicht, was ich der CDU vorzuschlagen hätte. Ich sage Ihnen aber mal, was mich im Moment am stärksten bedrückt in Deutschland. Es ist die Tatsache, dass es immer häufiger nur noch um die Verwaltung des geringen Wachstums geht. Viele Leute sagen Ja zu Reform dies und Ja zu Reform das, aber daraus entsteht keine Wachstumsperspektive, keine Rückkehr zu alten Wachstumsraten, die das deutsche Modell einmal zum Vorbild vieler Nationen gemacht hatte. Dieser Verlust von Optimismus und die Einstellung, dass es bestenfalls noch seitwärts gehen kann, finde ich deprimierend. Warum soll Deutschland nicht fünf Prozent Wachstum schaffen? Nein, ich drehe das sogar um: Deutschland muss mindestens drei bis vier Prozent wachsen, das ist doch für so ein Land gar kein Thema.

Niemand glaubt mehr daran.

Genau. Wir haben es mit einer typischen self-fulfilling prophecy zu tun. Wenn alle pessimistisch sind, behalten die Pessimisten sozusagen automatisch Recht.

Also ist für Sie alles nur eine Frage von Optimismus und Pessimismus?

Mit Optimismus allein ist nichts gewonnen. Nehmen wir England als Beispiel. Das Land war Ende der siebziger Jahre in einer viel schwierigeren Lage als Deutschland heute, es war praktisch pleite. Dann kam Margaret Thatcher an die Macht. Sie hatte einen Kompass, eine Überzeugung, ein Wertesystem. Ihre Politik basierte auf Prinzipien, von denen sie meinte, sie würden die Gesellschaft besser machen.

In der Schweiz hatten wir unsere Richtungswahl letzten Dezember, jetzt sitzt Oppositionsführer Christoph Blocher in der Landesregierung und kämpft für weniger Staat und mehr Freiheit. Ist unser Land weiter als Deutschland?

Als Deutscher bin ich eine Art Gast hier. Ich halte mich also zurück mit Kommentaren über die Schweiz. Klar ist, dass die Basisdemokratie den Politikern enge Grenzen setzt. Das macht das politische Leben für die Bürger äusserst anspruchsvoll, weil diese sich vor jedem Entscheid schlau machen müssen. Wenn man weniger delegiert, muss man bekanntlich mehr selbst machen. Deutschland und die Schweiz sind interessanterweise zwei Länder, die in den siebziger Jahren besser abschnitten als die meisten anderen in Europa. Entscheidend war ihre Konsenskultur, weil sie Exzesse verhinderte. Das hat lange gut funktioniert, nun aber gibt es Reformbedarf.

Reformen und nochmals Reformen ­ das klingt sehr abgedroschen. Weshalb muss denn so dringend reformiert werden?

Weil ein System, das im Konsens den kleinsten gemeinsamen Nenner sucht und damit Exzesse vermeidet, nach Brüchen nicht anpassungsfähig ist. Jedes konsensuale System optimiert nur das Bekannte, statt dass es etwas Neues sucht. Wir stehen aber vor völlig neuen Herausforderungen, und die haben nur in zweiter Linie mit der Globalisierung zu tun. Entscheidend sind der technologische Wandel und das vereinigte Europa, in das plötzlich viele neue Länder hineindrängen. Der Wettbewerb verschärft sich.

Können da nur Führungspersönlichkeiten wie Reagan oder Thatcher die Richtung vorgeben?

Ein Präsidialsystem ist in der Schweiz nicht vorgesehen, und in Deutschland würde man sich mit dem Gedanken eines starken Leaders erst recht schwer tun. Deshalb ist es so wichtig, klare wert- und prinzipienorientierte politische Schlachten zu führen. In einer Phase wie der heutigen muss Führung daher kommen, dass es eine gesellschaftliche Wahl gibt zwischen unterschiedlichen Verständnissen, wie das Land zu reformieren ist. Und diese unterschiedlichen Konzepte sollten auch die Themen umfassen, an die sich sonst keiner rantraut. Dann habe ich als Bürger die Wahl, und gleichzeitig hat der Politiker, der gewählt wurde, das Recht, das Versprochene auch umzusetzen.

So wie der wieder gewählte US-Präsident George Bush?

Mich hat beeindruckt, dass die Wahl dominiert war von der Frage, wofür die beiden Kandidaten stehen, welche Richtung, welche Prinzipien sie vertraten. Wir in Europa müssen aufpassen, dass wir nicht einem Pragmatismus verfallen, der vor allem zynisch statt pragmatisch ist.

Bush gilt bei vielen Europäern als religiöser Eiferer, der homosexuelle Ehen, Schwangerschaftsabbruch und Stammzellenforschung verbieten will.

Ich stimme sicherlich nicht mit all seinen Werten überein. Aber ich habe Respekt davor, wenn Führungspersonen in der Politik an etwas glauben. Dass am Ende Realpolitik mit Kompromissen stattfinden muss, ist ja klar. Aber in den USA gibt es heute Grundwerte, hinter denen sich die Menschen sammeln können. Das ist bei uns verloren gegangen. Damit sind wir wieder bei der Wachstumsfrage: Es war eben eine Idee des Thatcherismus zu sagen, wir brechen die Macht der Funktionäre, wir geben die Macht den Menschen und dem Markt zurück.

Vermissen Sie in Deutschland, dass niemand aufsteht und einen solchen Wurf präsentiert?

Warten wir ab, die Wahlen sind erst 2006. Aber ich glaube schon, dass Deutschland eine Richtungswahl nötig hat. Die sollte redlicherweise geführt werden mit klaren Positionen, die sich unterscheiden, auch mit radikalen Positionen. Dieser Einheitsbrei der Mitte, der immer wieder umgerührt wird ­ damit wird das System ad absurdum geführt. In einer schwierigen Situation braucht es klare Konzepte mit Prinzipien, zum Beispiel für mehr Markt, weniger Steuern, mehr Freiheit.

Und Sie glauben, dass eine solche Wahlmöglichkeit die Bürger wieder für Politik begeistern würde?

Es würde sie vor allem dazu zwingen, sich zu entscheiden. Wissen Sie, an Bush respektiere ich am meisten seinen Mut, Dinge zu sagen, die nicht sofort allgemeiner Konsens sind. Die Neigung, alles auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu reduzieren, ist eine Schwäche, die sich bei uns eingeschlichen hat. Es geht nicht darum, dass die Linke gegen die Rechte antritt, das ist schon lange Vergangenheit. Es geht vielmehr um eine Reformagenda, die meiner Meinung nach besagen muss, dass wir deregulieren, dass wir die Macht der Gewerkschaften einschränken, das Steuersystem radikal vereinfachen und den Menschen Freiheit und Verantwortung zurückgeben müssen. Wir in Europa waren so zynisch zu glauben, dass in den USA niemand eine Wahl gewinnen könnte, der starke Positionen vertritt und damit notgedrungen viele Leute vor den Kopf stösst. Dass ausgerechnet Bush mit seinen umstrittenen Überzeugungen gewann, ist etwas, das uns zutiefst verunsichert.

Werden sich in Zukunft auch bei uns Wahlkämpfe so grundsätzlich abspielen?

Ich glaube, dass diese Wahl manchen politischen Praktiker und Strategen sagen lassen wird: «Hey, es ist anscheinend möglich, mit deutlichen Positionen die Leute zu begeistern.» Das hat jetzt nicht nur mit dem Sieg der einen Seite zu tun, sondern mit der Tatsache, dass die Menschen unglaubliche Strapazen in Kauf nahmen, um ihr Wahlrecht wahrzunehmen. Bei uns reden europäische Politiker von der Pflicht der Bürger, zur Wahl zu gehen. So ein Blödsinn, es gibt keine Pflicht der Bürger, zu irgendeiner Wahl zu gehen. Der Politbetrieb ist für die Bürger da, und darum haben die Bürger überhaupt keine Pflicht, sondern das Recht, an die Urne zu gehen.

In Deutschland liegt die Stimmbeteiligung bei Bundestagswahlen mit über siebzig Prozent immer noch weit höher als in den USA.

Bei uns ist das irgendwie wie Zähneputzen und andere Dinge, die man halt machen muss. In den USA gingen Menschen an die Urne, weil sie begeistert waren. Ich habe noch nie erlebt, dass einer in Deutschland zwei Stunden vor dem Wahllokal gestanden hätte. Mein Gott, das ist doch wirklich toll. Statt über sie zu witzeln, sollten wir den Amerikanern dankbar sein, dass sie uns Demokratie in ihrer faszinierendsten Form gezeigt haben. Dass wir, die Bürger, die letzte Instanz sind. In einer Demokratie, die in sich ruht, wird gefightet, dass die Fetzen fliegen, die Leute sind hoch emotionalisiert. Aber nach der Entscheidungsfindung ist sie stabil, denn sie folgt demokratischen Spielregeln. Der Sieger weiss, dass er keine absolute Macht hat, sondern nur eine geliehene. Und der Verlierer sagt sich, wie Kerry es so schön ausgedrückt hat: «There will be another day.»

Nach diesem Begeisterungssturm für Politik müssen Sie uns erklären, warum Sie Manager und nicht Politiker geworden sind.

Ich kann Ihnen ein mindestens so grosses Feuerwerk über die Winterthur-Versicherung entfachen. Sie zwingen mich ja, dass ich mich zu meinem zweitwichtigsten Thema äussere.

Warum muss die «Winterthur» ins Ausland verkauft werden? Warum gibt es keine Schweizer Lösung?

Wie kommen Sie darauf, dass die «Winterthur» verkauft werden soll?

Ich höre Ihre Aussagen und lese Zeitung.

Das Problem mit Journalisten ist, dass sie halt nicht alles so genau wissen können und trotzdem jeden Tag ihre Seiten füllen müssen. Der Verwaltungsrat der Credit Suisse Group hat eine klare Äusserung gemacht: Das Allfinanz-Modell ist nicht mehr Strategie der Gruppe. Damit ist die «Winterthur» kein Kerngeschäft mehr, sondern nur noch ein wesentliches Finanzinvestment. Aber niemand hat etwas von Verkauf gesagt, sondern dass wir jede Option ­ auch die eines Verkaufs ­ völlig vorurteilslos prüfen wollen. Auch ein Finanzinvestment muss man nicht verkaufen, es muss nur eine ordentliche Finanzrendite erwirtschaften. Die ersten neun Monate zeigen, dass wir kein Problemkind der Credit-Suisse-Gruppe mehr sind.

Die Signale nach aussen sind: Wer genug bietet, kann die «Winterthur» erwerben.

Schauen wir mal, ob es sich jemand leisten kann, eine so gute Firma zu erwerben. Es gibt von uns keine Aussage, dass wir die Winterthur-Versicherung verkaufen wollen. Das ist eine Option, genauso wie auch ein Börsengang oder ein Verbleib in der Credit-Suisse-Gruppe Optionen sind, die wir prüfen. Dieser Prüfungsvorgang, den wir in der gebotenen Diskretion machen, ist noch nicht zu Ende. Aber ich verstehe ja, es gibt nicht mehr so viele Übernahme-Storys, also wirft man mal ein paar Steine ins Wasser, dann gehen die Wellen. Aber es gibt den berühmten Satz von Helmut Kohl: Die Hunde bellen, und die Karawane zieht weiter.

Die «Winterthur» musste von Grund auf saniert werden. Sie zogen sich aus ausländischen Märkten zurück und bauten Stellen ab. Drohen weitere Hiobsbotschaften?

Der Turnaround ist geschafft, und darauf sind wir stolz. In den ersten neun Monaten haben wir mit 753 Millionen Franken Nettogewinn einen entscheidenden Beitrag zum Gruppengewinn der Credit Suisse geleistet. Wir wissen aber auch, dass wir weiterhin einen harten Weg vor uns haben, weil sich die Versicherungsindustrie dramatisch verändert hat. Faktisch operierten wir lange in einem geschützten Markt. Nun fallen überall die Schranken ­ durch den europäischen Binnenmarkt, durch verändertes Konsumentenverhalten, durch neue Geschäftsmodelle. Über Jahrzehnte stabile Geschäftsstrukturen wurden über Nacht in den Grundfesten erschüttert. Die Diskussion darüber, wem die «Winterthur» gehört, ist gut und schön. Aber sie ändert nichts daran, dass wir unser Geschäft so weiter-entwickeln müssen, dass es auch in zehn Jahren den Angestellten eine Perspektive, den Kunden ein Produkt und den Aktionären eine Rendite gibt.

Das müssen heute alle Firmen tun.

Es gibt einen zweiten Trend, der sehr versicherungsspezifisch ist. Die «Winterthur» hat die Pflicht, 140 Milliarden Franken möglichst sicher und gewinnbringend anzulegen. In den Boomjahren von 1980 bis 2000 stiegen sowohl die Obligationenrenditen als auch die Aktienkurse, da konnte man locker Renditen von sechs, sieben, acht Prozent erzielen. Dieser Boom ist mit einem Mal, innerhalb von anderthalb Jahren, zu Ende gegangen. Bum, finito, aus. Bei den niedrigen Zinsen und dem seitwärts tendierenden Aktienmarkt liegen noch drei bis vier Prozent Renditen drin. Plötzlich sind wir gezwungen, Geld im Kerngeschäft zu verdienen. Das geht aber nur mit deutlich tieferen Kosten.

Wie weit ist die «Winterthur» in diesem Prozess?

Mitten im Kostensenkungsprozess. Wir haben unsere Ausgaben im letzten Jahr um 19 Prozent und in den ersten neun Monaten des laufenden Jahres nochmals um 5 Prozent gesenkt. Gleichzeitig haben wir unser Geschäftsvolumen ausgebaut. Das heisst, unsere Produktivität ist gestiegen.

Das ging zu einem grossen Teil zu Lasten des Personalbestands. Haben Sie beim Abbauen von Stellen manchmal Selbstzweifel gehabt, ob Ihr Vorgehen richtig ist?

Das sind derart gewichtige Entscheide, da sind Selbstzweifel nicht nur erlaubt, sondern notwendig. Sonst würde man seine Verantwortung nicht wahrnehmen. Wichtig ist, dass solche Entscheidungsprozesse intensiv geführt werden. Es gehört nun mal zu den Aufgaben des Managements, auch unangenehme und harte Entscheide zu treffen. Diese machen dann Sinn, wenn sie für das Unternehmen und die Mitarbeitenden langfristig die richtigen sind.

Sie sprachen von neuen Geschäftsmodellen im Versicherungsmarkt. Wie sehen diese aus?

Das ist im Fluss, noch weiss keiner so genau, was nun das richtige Modell ist, wie viele Kosten, welche Strukturen, welche Prozesse, welche Produkte nötig sind. Aber man spürt die enorme Veränderungs- und Anpassungsgeschwindigkeit in der gesamten Branche. Diese Prozesse stellen auch für uns als Unternehmen und für uns als Menschen in diesem Unternehmen eine enorme Belastung dar. Dieser dramatische Wandel passiert jedoch unabhängig von mir oder von irgendjemandem. Deshalb ist es so wichtig, dass man das endlich von der imaginären strategischen Wolke und der Frage löst, wie künftig die Besitzstruktur der «Winterthur» ausschauen wird.

Hat die «Winterthur» als eigenständiger Konzern langfristig eine Existenzberechtigung, oder ist sie zu klein dafür?

Was für eine Frage, was soll ich darauf so kurz und bündig sagen?

Wir üben keine Zensur.

Also gut. Grösse ist relativ, im Versicherungsgeschäft entscheidet die Stärke in den jeweiligen Märkten. In der Schweiz sind wir Marktführerin, daneben gibt es eine Reihe von Ländern, in denen wir ebenfalls gross genug sind. In einigen Märkten trifft das aber nicht zu. Unsere Strategie ist klar: Wir wollen lieber unsere Position in wenigen Märkten verstärken, als in vielen zu klein zu sein.

Bisher haben Sie nur Tochtergesellschaften verkauft. Warum sehen wir nie eine Akquisition von Ihnen?

Wenn Sie den Begriff «nie» auf mich persönlich beziehen, stimme ich Ihnen zu. In meiner Phase hat die «Winterthur» bisher nichts gekauft. Da sprechen wir aber von einer Dauer von anderthalb Jahren. In dieser Zeit hatten wir existenziellere Aufgaben zu lösen, als unsere Präsenz im Ausland auszuweiten. Vorrang hatte der Turnaround. Jetzt könnte es durchaus auch in die andere Richtung gehen.

Sie kennen jetzt beide Welten ­ jene raue des angelsächsischen Investmentbankings und jene konservative Deutschlands und der Schweiz. Welche bevorzugen Sie?

Dem angelsächsischen Liberalismus werde ich immer näher verbunden sein als dem kontinentaleuropäischen Etatismus. Gleichzeitig bin ich sicher, dass der Gesellschaftsvertrag, den wir auf dem Kontinent und in der Schweiz haben, einer der Grundpfeiler unserer Solidargesellschaft ist und uns auch stark gemacht hat. Diese höhere Solidarität bedeutet immer auch etwas mehr Umverteilung ­ mit Betonung auf etwas. Sie kann nur geschützt werden, wenn wir den Mut haben, mehr Freiheit und Eigenverantwortung, dafür weniger Staat, weniger Verwaltung und weniger Funktionäre durchzusetzen. Nur das gibt den Menschen die Perspektive, dass es sich lohnt, Geld zu verdienen und daraus etwas zu machen.

Leonhard Fischer: Der Offenherzige

Nach Presseauftritten steht Leonhard Fischer, 41, nie lange allein im Raum. Journalisten suchen das Gespräch mit dem Chef der Winterthur-Versicherung, weil er als «outspoken» gilt ­ ein Unternehmensleiter, der sich getraut, eine eigene Meinung zu unterschiedlichsten Themen zu äussern. In Deutschland schuf sich Fischer den Ruf eines Wunderknaben der Wirtschaft, weil er schon als 32-Jähriger Handelschef der Dresdner Bank wurde und mit 38 in die Geschäftsleitung der Allianz kam, einer der weltweit grössten Versicherun-gen. Ein Jahr später erfolgte der Karriereknick: Arbeitnehmervertreter im Allianz-Aufsichtsrat erzwangen Fischers Absetzung.

Rasch kam er zurück und übernahm Anfang 2003 die Leitung der Credit-Suisse-Versicherungstochter «Winterthur», die mit über einer Milliarde Franken ins Minus geraten war. Fischers Auftrag lautete: so schnell wie möglich zurück in die Gewinnzone. So stiess er die erfolgreichen Töchter in Italien und England zu guten Preisen ab, blieb aber auf den Sorgenkindern Deutschland, Spanien, Frankreich, Belgien und USA sitzen. Das macht heute einen Verkauf der ganzen Gruppe schwierig.


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