Zweifel an der Flugsicherung

Der Beinahe-Crash zweier startender Jets in Zürich-Kloten bringt Skyguide in Bedrängnis. SonntagsZeitung, 20. März 2011

Die Schweiz ging am Dienstag um Haaresbreite an ihrem grössten Flugunglück aller Zeiten vorbei. Ein Swiss-Airbus nach Madrid blieb nach einer Vollbremsung nur rund 20 Meter vor dem Pistenkreuz des Flughafens Zürich-Kloten stehen, wo eine andere Swiss-Maschine vorbeiraste. Verantwortlich für die Startfreigabe auf den kreuzenden Pisten ist die Flugsicherung Skyguide. Diese spricht von einem «Einzelfall», der intern und extern abgeklärt werde.

Erst das Warnsystem schlug Alarm

Recherchen zeichnen das Bild einer Unternehmung mit ungenügender Sicherheitskultur. Der Tower-Lotse soll trotz Sicht auf das Pistensystem erst reagiert haben, als ein Warnsignal aufheulte.

«Swiss 1-3-2-6, cleared to take off runway 1-6», funkte der Flugverkehrsleiter gegen 12.40 Uhr dem Swiss-Airbus A320 mit Ziel Moskau. Der auf der Kurzpiste 28 wartende Jet durfte die Startfreigabe erst erhalten, wenn der Moskau-Flieger auf Piste 16 die Kreuzung erreicht hatte.

Doch «Swiss 2-0-2-Whiskey», die Lotsen-Bezeichnung für Flug 2026 nach Madrid («Whiskey» für «6» zur klaren Unterscheidung zum Moskau-Flug), erhielt grünes Licht, bevor der Moskau-Jet bei der Kreuzung war. Die Madrid-Piloten bemerkten dies trotz gleicher Funkfrequenz nicht.

Laut einem Skyguide-Insider reagierte der Lotse erst, als das Skyguide-Warnsystem Rimcas akustisch und visuell Alarm schlug. Rimcas ist in Kloten seit letztem Sommer im Betrieb und soll «frühzeitig mögliche Konflikte» von Flugzeugen und Fahrzeugen auf dem Pistensystem melden. «Stop take off immediately!», funkte der Lotse ins Madrid-Cockpit. Die Geschwindigkeit war bereits bei rund 130 Knoten oder 240 Stundenkilometern, wie der «Aviation Herald» meldet.

Das wäre kurz vor Entscheidungsgeschwindigkeit V1. Ein Swiss-Kapitän bestätigt die Information der SonntagsZeitung mit Bezug auf interne Angaben.

Bis V1 darf der Kapitän die Gashebel nach hinten ziehen und Bremsklappen sowie die Schubumkehr setzen, um so automatisches Bremsen auszulösen.

Ob es nach einer V1-Überschreitung zum Crash mit dem Moskau-Flieger gekommen wäre oder dieser unter dem abhebenden Madrid-Airbus durchgerast wäre, lässt sich nicht sagen.

Der Swiss-Insider sagt mit Bezug auf das interne Chefpiloten-Bulletin, der Madrid-Kapitän habe den Start von sich aus abgebrochen. Das passt zur Bemerkung eines Passagiers auf Flyertalk.com, einem Blog für Vielflieger. «Der Kapitän sagte uns, sein und ein anderes Flugzeug seien auf Kollisionskurs gewesen», schreibt «begemot». «Er sagte, der Startabbruch sei sein Entscheid und jener seines Kopiloten gewesen.»

Ob der Skyguide-Lotse vom Rimcas-Alarm aufgeschreckt wurde, will Daniel Knecht vom zuständigen Büro für Flugunfalluntersuchungen nicht sagen. Die Abklärungen seien im Gang. Skyguide sagt nur, der Lotse habe der Besatzung den Startabbruch befohlen. Der Zwischenfall weckt erneut Zweifel am Flugsicherungsunternehmen. Nach dem Zusammenstoss zweier Jets bei Überlingen am Bodensee 2002 glückte der Firma mit 1400 Mitarbeitern unter neuer Führung und dank Wiedergutmachungsgesten ein Neuanfang. Beim Unglück mit 49 Kindern an Bord hatte ein Lotse die eine Maschine nur 43 Sekunden vor dem Crash in den Sinkflug geschickt. Der Befehl kollidierte mit der Computeranweisung im Cockpit des zweiten Jets.

Zwei Skyguide-Fälle passen zum jüngsten Ereignis

1990 war eine DC-9 der Alitalia beim Landeanflug in einen Hügel vor Kloten gekracht. Ursache war menschliches Versagen im Cockpit, der Lotse hatte jedoch das stete Absinken nicht bemerkt. Bei einem Absturz im Herbst 2001 bei Bassersdorf ZH wies die Flugsicherung der Crossair-Besatzung kurzfristig eine andere Landepiste zu, auch dort lag die Schuld bei den Piloten.

Zwei Skyguide-Fälle passen zum jüngsten Ereignis. 2004 beschleunigte ein Swiss-Jumbolino auf Piste 10, als ein Emirates-Jet auf Piste 14 durchstartete. Es bestand ein Crash-Risiko über Kloten. Im Juli 2008 ging ein ostfriesischer Metroliner beim Tower-Schichtwechsel-Briefing vergessen. «Da landet ja noch einer auf Piste 16», sagte der verantwortliche Lotse gemäss Untersuchung. Der bereits gestartete Air-Berlin-Jet kam einen Kilometer vor dem Pistenkreuz 16/28 zum Stillstand. Laut einem Skyguide-Insider wurde noch nie ein verantwortlicher Flugverkehrsleiter oder dessen Chef wegen solcher Fehler entlassen. «Skyguide fürchtet sich vor den Lotsen», begründet er.

Laut Skyguide gehe es hingegen darum, aus Fehlern zu lernen. «Dies erreichen wir nur mit einer offenen Sicherheitskultur, in der es nicht um Bestrafung und Schuldzuweisungen geht, sondern um das gemeinsame Ziel, das Gesamtsystem nachhaltig zu verbessern.» Auch für den Sprecher der Zürcher Lotsen-Gewerkschaft ist das Problem das «Gesamtsystem Luftfahrt/Flugsicherung», das durch «Entlassung einzelner Personen nicht sicherer» würde.


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