Das Nichtstun ist keine Option mehr

Steuerexperten warnen nach dem Bankgeheimnis-Desaster davor, die Forderungen der EU für eine Abschaffung von Schweizer Steuerprivilegien auf die leichte Schulter zu nehmen. Trotzdem spielen die Kantone auf Zeit. Handelszeitung, 1. September 2010

Die Nachricht ging im steten Strom der Neuigkeiten unter. Vor zwei Wochen verkündete der Bundesrat, mit der Europäischen Union (EU) über die Zukunft von Steuerprivilegien zu reden. Was kaum beachtet wurde, hat Sprengpotenzial: Die kantonalen Steuerprivilegien (siehe Box) stehen zur Disposition.

Steuerexperten warnen

Insider sehen die Ankündigung als Fanal. Das Holdingprivileg und ausländische Steuerbevorzugung seien nicht mehr haltbar, proklamierte Stephan Kuhn von Ernst&Young, einer globalen Revisions- und Treuhandfirma. «Umso wichtiger ist es, dass die Schweiz proaktiv handelt, die Steuerprivilegien in ihrer heutigen Form aufgibt und diese durch EU-konforme ersetzt», schrieb Kuhn in der NZZ.

Sein publizistischer Vorstoss sei dringlich gewesen, meint Kuhn im Gespräch mit der «Handelszeitung». «Beim Bankgeheimnis meinten Spitzenpolitiker und Top-Banker, der Vorteil werde ewig halten – ein grosser Irrtum, wie sich im Nachhinein herausstellte.» Umso wichtiger sei rasches Handeln bei den Kantonsprivilegien. Der Zeitpunkt sei günstig. «Noch besteht die Chance, dass wir mit Gegenleistungen rechnen können.»

Der Ruf zum Handeln ist verbreitet. «Ein Geben und Nehmen brächte der Schweiz per saldo Vorteile, ohne dass gleich eine finanzielle Schieflage drohen würde», sagt Jörg Walker von KPMG, einer anderen grossen Revisionsgesellschaft. Die Kantone sollten «jetzt proaktiv neue Steuermodelle» andenken.

Nicht noch ein Waterloo nach jenem beim Bankgeheimnis – so lautet das Motto. Dass der Goliath EU jetzt zur Keule namens «Code of Conduct» (Verhaltenskodex) greift, sei nicht schlecht, meint Christoph Schaltegger vom Wirtschaftsdachverband Economiesuisse. «Das ist wenigstens ehrlich, der frühere Verweis auf das Freihandelsabkommen war schon immer scheinheilig.» Mit dem Hinweis auf eine Verletzung des Verhaltenskodexes zeige die EU ihre wahre Absicht. «Kein Sonderzüglein bei den Steuern, wenn es um die Ansiedelung neuer Firmen geht», darum gehe es ihr, sagt der Ökonom.

Das rüttelt jedoch an helvetischen Tabus: Die Steuerautonomie der 26 Kantone wackelt. Lenke die Schweiz ein, gehe diese Freiheit grösstenteils verloren, meint Christoph Schaltegger von Economiesuisse. «Das wäre ein riesiger Integrationsschritt, weil letztlich nicht mehr wir selbst das Sagen hätten, sondern die Beschlüsse des Europäischen Gerichtshofs nachvollziehen müssten.»

Wie stark die Kantone ihren Spielraum nutzen, zeigt der Blick in die Statistik. Eine Firma mit 2 Mio Fr. eigenen Mitteln und 12% Gewinn wurde 2009 vom Fiskus in Basel-Stadt mit 63 000 Fr. (entsprechen 26%) zur Ader gelassen. In Herisau in Appenzell Ausserrhoden zahlte ein vergleichbares Unternehmen 32 000 Fr. (rund 13%) – gerade einmal halb so viel (vergleiche Grafik unten).

Basel BS 26.16
Neuenburg NE 25.42
Genf GE 24.76
Delsberg JU 23.98
Freiburg Fr 23.74
Lausanne VD 23.53
Bellinzona TI 22.74
Zürich ZH 22.31
Chur GR 22.19
Liestal BL 21.62
Bern BE 21.4
Solothurn So 20.82
Luzern LU 20.75
Sitten VS 20.26
Schwyz SZ 19.34
Glarus GL 18.38
Schaffhausen SH 17.43
Sankt-Gallen SG 17.32
Aarau AG 17.06
Frauenfeld TG 16.84
Altdorf UR 15.85
Stans NW 15.6
Zug ZG 14.86
Appenzell AI 14.16
Sarnen OW 14.12
Herisau AR 13.17
Kantons-, Gemeinde-, Kirchen- und direkte Bundessteuern 2009
Gewähltes Beispiel: Bank, Industrie- oder Handelsfirma mit 2 Mio. Fr. steuerbarem Kapital und Reserven und 12 Prozent Rendite
Quelle: Bundesamt für Statistik, Steuerbelastung in der Schweiz, Kantonshauptorte, 2009

Hochsteuerkantone wie Basel, Zürich und Genf hätten es schwer, Firmen aus dem Ausland unter einem «fairen» Steuerregime bei Stange zu halten, also mit gleichen Sätzen für in- und ausländische Unternehmen. Es sei denn, sie würden die Steuerbelastung massiv senken, was angesichts der Zentrumslasten kaum gelingt. In der Innerschweiz und im Appenzell hingegen werden Inlandfirmen schon heute kaum stärker belastet als ausländische. Um auch die inländischen Gesellschaften auf das heutige tiefe Niveau der ausländischen zu drücken, bräuchte es in diesen Kantonen wenig.

Kopf runter und warten

Noch zeigen sich die Kantone solidarisch im Kampf gegen die EU. In der Finanzdirektorenkonferenz, welche die Interessen der 26 Stände vertritt, ist der Zuger Peter Hegglin Vize und zuständig für Steuerthemen. Hegglin pocht auf den Alleingang. «Die EU kennt ein fundamental anderes Steuer-, Förder- und Beihilfensystem als die Schweiz. Eine Übernahme hätte einen riesigen Umbau unseres heutigen Systems zur Folge», begründet der CVP-Regierungsrat. «So etwas kommt nicht in Frage.» Weil sich die EU-Steuerkommissäre unpräzise äussern, sei es sowieso «das Beste für uns, nichts zu überstürzen und die Erwartungen einfach mal zu analysieren».

Kopf runter und warten, bis sich das Gewitter verzieht? Nicht nur beim Sturm aufs Bankgeheimnis die falsche Taktik, meint Peter Baumgartner von Swissholdings, der Lobby der Grossunternehmen. «Druck auf die Steuerprivilegien für ausländische Firmen droht nicht nur aus der EU, sondern auch von der G-20 und der OECD.»

Die von Experten ins Spiel gebrachten Steuererleichterungen für Forschung und Entwicklung statt für Auslandherkunft seien wenig erfolgversprechend, meint Baumgartner. «Einfache Rezepte gibt es keine.»

Dem pflichtet Economiesuisse-Experte Schaltegger bei. «Alle Nischenvorschläge sind gut gemeint, langfristig führt aber schlicht kein Weg an tiefen Steuern vorbei», sagt Schaltegger. Hochmobile Firmen würden ihre Zelte schon heute «über Nacht» abbrechen. Also gebe es nur eine erfolgversprechende Strategie. «Jeder Kanton muss wettbewerbsfähige Steuern haben.»

Attraktive Besteuerung

Die Schweizer Steuerprivilegien für Unternehmen haben viele verschiedene Namen: Holdingprivileg, Vergünstigungen für gemischte Gesellschaften, Vergünstigungen für Domizilgesellschaften. Eine Holding muss die bereits bei den Beteiligungsfirmen versteuerten Dividenden nicht nochmals versteuern; die vor allem im Ausland aktive gemischte Gesellschaft benötigt weniger Infrastruktur; Domizilgesellschaften oder umgangssprachlich «Briefkastenfirmen» haben einzig den juristischen Sitz in der Schweiz.

Keine kantonalen Steuern Allen juristischen Formen gemeinsam ist eine attraktive Besteuerung. Neben 8,5% Bundessteuern fallen je nach Domizil keine zusätzlichen kantonalen Steuern an. Zum politischen Zankapfel mit der EU wurden die Rabatte, weil sie Firmen anziehen und dem Ausland Steuersubstrat entziehen.

«Verhaltenskodex» Ende 2008 offerierte der Bundesrat ein Verbot von Briefkastenfirmen und eine Teilbesteuerung von gemischten Gesellschaften auf Kantonsstufe. Weil sich Italien querlegte, konnte der Rest der Europäischen Union nicht zustimmen. Nun greift die Gemeinschaft die Schweiz unter dem Stichwort «Verhaltenskodex» auf der grundsätzlichen Ebene an. Das Ziel der jüngsten Aktion dürfte es sein, der Schweiz das Steuerkleid der Europäischen Union überzustülpen.


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