Eine S-Bahn für Planet Erde?

Vor 15 Jahren kostete eine Flugreise nach Madrid ein kleines Vermögen. Zumindest für einen Sprachstudenten wie mich. Aus Budgetgründen kam ein Kurzabstecher in die Heimat kaum in Frage. Halb so schlimm, in Iberien lässt es sich gut leben. (Swissfuture, Magazin für Zukunftsmonitoring, 01/08)

Heute reise ich aus familiären Gründen öfters in die spanische Hauptstadt als in unsere Bundeshauptstadt, selbstverständlich im Flugzeug. Das Fliegen in Europa ist günstig und unkompliziert geworden. Wer rechtzeitig bucht, kriegt für weniger als 200 Franken ein Retourticket nach Madrid, Rom, Berlin, London oder ein anderes europäisches Zentrum.

Eine Community von Flugpendlern steigt freitags am Gate 75 im Terminal A von Zürich-Kloten in einen Swiss-Airbus. Juan und Lourdes, beide Mitte Dreissig, arbeiten für die iberische Bank BBVA, Virginia ist Finanzmanagerin beim Industriemulti ABB, Gonzalo Berater in der chemischen Industrie. Zwei, noch öfters drei Mal im Monat jetten sie für ein Weekend in ihre Heimat. Auch Schweizer pendeln regelmässig. Topshot Matthias von einer Catering-Firma besucht seine spanische Familie. „Ich kenne schon den halben Flieger“, scherzt der Manager am Sonntag auf dem Rückflug nach Zürich.

Der europäische Flugverkehr ist zur aviatischen S-Bahn geworden. Von Zürich nach Madrid fliegt die Swiss 3 Mal täglich, nach Paris 6 und nach Berlin 7 Mal. Die Abflüge nach London erfolgen im Stundentakt, sogar 16 Swiss-Maschinen heben jeden Tag in Kloten mit Ziel Heathrow ab. Parallel zum ausgebauten Angebot hat sich die Reisezeit verkürzt. Stellte man sich vor 20 Jahren mindestens anderthalb Stunden vor Abflug in die Schlange vor dem Check-in-Schalter, nutzt man heute das elektronische Ticket zum einfachen Erledigen der Formalitäten. Nur unerfahrene Touristen langweilen sich noch in den Terminals.

Nachdem sich der kontinentale Flugverkehr innert 20 Jahren zum flächendeckenden Nahverkehrssystem entwickelt hat, stellt sich die Frage, ob das Reisen dereinst auch zwischen den Kontinenten zum Katzensprung wird. Wird die Swiss im Jahr 2048 drei Mal täglich nach Tokyo, sechs Mal nach Shanghai und stündlich nach New York fliegen?

Ein kurzer Rückblick auf die Entstehung des Booms im Kurzstreckenverkehr erlaubt mögliche Schlüsse für die Zukunft. Die Initialzündung war vor 30 Jahren ein Entscheid von US-Präsident Jimmy Carter. Dessen Administration beendete per Dekret das Modell fixer und entsprechend überhöhter Flugpreise. Statt dass der Branchenverband Iata aus Rücksicht auf seine am wenigsten effizienten Mitglieder hohe Tarife festlegen konnte, führte von nun an das Spiel von Angebot und Nachfrage zu einer Preisspirale nach unten.

Das Ende des Iata-Kartells beflügelte die Billigcarriers, zu deren Vorbild die 1967 gegründete Southwest Airlines wurde. 1973 beförderte das Unternehmen aus Dallas/Texas erst eine halbe Million Passagiere, im letzten Jahr buchten bereits 89 Millionen Menschen einen Flug auf einer der 500 Boeing 737, fast 50 Prozent mehr als die ganze Lufthansa-Gruppe inklusive Swiss für letztes Jahr ausweist. Trotz tiefen Krisen in der Flugindustrie schrieb die Nummer drei der US-Airlines als grosse Ausnahme immer schwarze Zahlen.

Die Billigflugwelle erreichte Europa spät. Das hängt mit der unterschiedlichen Struktur der Kontinente zusammen. Während die Amerikaner Tausende von Kilometern weit reisen können, ohne eine Grenze zu überschreiten, bremsen im zersplitterten Europa unterschiedliche Kulturen und Sprachen die Mobilität. Erst mit dem gemeinsamen Wirtschaftsraum und den rekordtiefen Flugpreisen begann sich ein engmaschiges Flugnetz über den alten Kontinent zu spannen.

Inzwischen buhlen die englische Easyjet, die irische Ryanair, die deutsche Air Berlin und viele weitere Airlines um die hiesige Klientel. Sie profitieren von einer modernisierten Infrastruktur am Boden, mit neuen Start- und Landepisten, Terminals, Parkhäusern und einem effizienten Strassen- und Schienennetz, welche zur Verkürzung der Gesamtreisezeit beitragen. Das heizt die Nachfrage an. Wer für den Trip in eine europäische Metropole von Tür zu Tür noch maximal vier Stunden braucht, den zieht es häufiger in die Ferne.

Was für die Kurzstrecken gilt, könnte in Zukunft auch für den Verkehr zwischen den Kontinenten zutreffen. Denn die Welt rückt durch die wirtschaftliche Verflechtung immer enger zusammen, die Flughäfen sind ausgebaut, die Fluggesellschaften innovativ. Die Hongkonger Oasis offeriert seit 2006 Flüge nach London für 100 Euro. Ihr Ziel sei es, Interkontinentalflüge erschwinglich zu machen für alle, Geschäftleute ebenso wie Privatpersonen, sagt die Airline. Der britische Unternehmer Richard Branson will mit seiner Virgin Airlinegruppe ebenfalls den Langstreckenverkehr erobern.

Eine entscheidende Unbekannte bleibt allerdings. Die technische Entwicklung, die am Anfang jedes Booms in der Fliegerei steht, lässt sich nicht genau prognostizieren. Im 2. Weltkrieg waren es Bomber und Jagdflugzeuge, die eine neue Ära in der Zivilluftfahrt ankündigten. Noch bevor die Waffen schwiegen, machten sich Standortplaner auf die Suche nach brach liegenden Landflächen für kilometerlange Pisten. Später ersetzten Düsentriebwerke die Propeller, dann folgten der viermotorige Jumbo und die Überschall-Concorde.

Heute setzen die Hersteller auf leistungsstarke und verbrauchsarme Triebwerke. Der Erfolg des Typs 787 von Boeing hängt massgeblich mit seinem zweistrahligen Antrieb zusammen. Fluggesellschaften ermöglicht der B787 im Langstreckenverkehr Kostenersparnisse von rund 20 Prozent. Das europäische Aviatik-Konsortium Airbus, das seine Anstrengungen auf den doppelstöckigen A380 konzentrierte, geriet durch den reissenden Absatz des Konkurrenzjets ins Hintertreffen und musste mitten in einer Verlustphase eine eigene teure Neuentwicklung mit zwei Triebwerken in Angriff nehmen.

Der B787, der ursprünglich Dreamliner hiess, soll dieses Jahr seinen Dienst aufnehmen. Mit ihm will die amerikanische Flugzeugherstellerin Boeing ein neues Kapitel im Buch der Zivilluftfahrt aufschlagen. Interkontinentale Punkt-zu-Punkt-Verbindungen statt Hub-and-Spoke-System lautet die Losung. Wie bei einer Nabe mit Speichen befördern im jetzigen System die Airlines ihre Passiere von Zubringerdestinationen in ein Zentrum, das man Hub nennt. Dort sollen die Reisenden die bereit stehenden grossen Langstreckenjets füllen. Die lange Dauer mit Zubringer- und Langstreckenflügen, die riesigen Flughäfen mit ihren endlosen Umsteigewegen und die Verspätungen wegen Verkehrsüberlastung erschweren die Reise. Doch die hohen Kosten für Interkontinentalflüge machen Alternativen zur bisherigen Bündelung der Verkehrsströme schwierig.
Das will Boeing mit ihrem 787 ändern, dessen tiefe Sitzkosten neue Direktverbindungen ermöglichen sollen. Statt wie bisher 300 und mehr Passagiere würden in Zukunft gut 200 genügen, um die Fixkosten für eine Flugreise von Kontinent zu Kontinent zu decken. Damit wird erstmals eine Zukunft vorstellbar, in der die Kontinente statt mit ein paar wenigen dicken Arterien mit einem Netz von mittelgrossen Verkehrsadern verbunden sind.

Ob dieses Szenario Realität wird, hängt vom Verhalten der breiten Masse ab. Erst wenn auch Privatpersonen bereit sind, so wie die Geschäftsleute regelmässig mit dem Jet lange Flugdistanzen zurückzulegen, entstehen tägliche Verbindungen zwischen neuen interkontinentalen Städte-Paaren. Dazu braucht es aber neben günstigen Preisen vermutlich vor allem eines: kürzere Reisezeiten. Denn solange wir Schweizer sieben Stunden nach New York benötigen, kommen zweitägige Stippvisiten in den Big apple nur für Hartgesottene in Frage. Eine Halbierung der Reisezeit, aber ohne Kostenexplosion wie bei der Concorde, wäre zwingend. Die schoss zwar mit 2’000 Kilometern pro Stunde über den Atlantik, doch die horrenden Preisen schreckten sogar die Businessklasse ab.

Die Flugzeugindustrie müsste sich an die Entwicklung eines völlig neuen Typs von Ziviljet heranwagen. Beim letzten Versuch vor ihrem erfolgreichen Launch des 787-Modells war die amerikanische Boeing in die tiefste Krise ihrer Geschichte gerutscht. Die Idee namens Supersonic, ein Überschalljet für ein breites Publikum, der die Reisezeit massiv reduziert hätte, kam bei den Airlines schlecht an. Statt einem Ferrari der Lüfte wollten diese einen ökonomischen Mittelklassejet.

Auf absehbare Zeit dürfte die Flugindustrie die Entwicklung einer solchen eierlegenden Wollmilchsau kein zweites Mal an die Hand nehmen. Und ob sich dies bis 2048 ändern wird, muss sich weisen. In der Flugindustrie zeichnen sich nämlich die Entwicklungen durch kontinuierliche Verbesserungen aus. Die grossen Sprünge sind hingegen selten. Davon zeugt die Geschichte des berühmtesten Flugzeugs der Zivilluftfahrt. Der doppelstöckige, vierstrahlige Jumbojet von Boeing ist seit den 60er Jahren in Betrieb, und ein Ende seines Einsatzes ist immer noch nicht in Sicht.


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