Ein Gespenst geht um

Die milliardenhohen Finanzspritzen der Zentralbanken retten die Finanzinstitute und beruhigendie Anleger. Der Preis dafür ist hoch. Die Geldschwemme löst eine Teuerungswelle aus. Die Folgen:eine scharfe Rezession und die kalte Enteignung der Mittelklasse. (Weltwoche, 27. März 2008)

Die Österreicher sagen, die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst. Umgekehrt die Preussen: Für sie ist die Lage ernst, aber nicht hoffnungslos. Amerika, so wurde letzte Woche klar, denkt preussisch. Mit der jüngsten von mehreren Liquiditätsspritzen versuchte ihre Zentralbank, das Federal Reserve Board (Fed), die Finanzmärkte verzweifelt bei Laune zu halten und gleichzeitig den Kollaps eines traditionsreichen Geldhauses abzuwenden – koste es, was es wolle.

Es ging dramatisch zu und her die letzten 14 Tage an der Wall Street, wo die stolzen amerikanischen Investmentbanken zu Hause sind: Innert 48 Stunden hatten die Gläubiger dem 85-jährigen Traditionshaus Bear Stearns das Vertrauen entzogen, nachdem das Institut sich mit maroden Hypothekenpapieren verspekuliert hatte. Die Bank stand unmittelbar vor dem Kollaps und drohte weitere Finanzhäuser in den Abgrund zu reissen. Da griff die US-Notenbank unter der Führung ihres Präsidenten Ben Bernanke ein – mit allem, was es an Munition gab.

Historische Ausmasse

Sagenhafte zweihundert Milliarden Dollar flutete das Fed über das Bankensystem, stutzte die Zinsen auf 2,25 Prozent und schnürte zusammen mit dem solventen US-Finanzkonzern JP Morgan Chase ein Rettungspaket für Bear Stearns. Das Ausmass der Staatshilfe war historisch. Sie offenbarte die Schwere der Krise, konnte aber einen Dammbruch des Finanzsystems abwenden.

Dafür wecken die Notmassnahmen nun Geister, die man für verschwunden hielt. Es droht eine erhöhte Inflation. In den USA hat die Teuerung bereits vier Prozent überschritten. Das ist so viel wie seit fast zwanzig Jahren nicht mehr. Zur Erinnerung: 1990 legten die Preise im Vergleich zum Vorjahr 6,1 Prozent zu. Kein Wunder, dass manche Ökonomen vor einer Teuerungsexplosion warnen. Mit ihrer grosszügigen Geldversorgung habe die Notenbank «gezünselt» und müsse nun als Feuerwehr auftreten, um zu verhindern, dass daraus ein «veritabler Flächenbrand» werde, schrieb die Neue Zürcher Zeitung unlängst.

Auch Kenneth Rogoff, Ökonomieprofessor an der amerikanischen Harvard-Universität und früherer Chefökonom des Währungsfonds, kritisiert die aggressiven Massnahmen des Fed: «Der Preis dieser ‹Versicherungspolice› dürfte eine deutlich höhere Inflation sein, die möglicherweise mehrere Jahre andauert.» Rogoff prophezeit Teuerungsschübe wie in den achtziger Jahren. Zwischen 1973 und 1981 betrug die jährliche Durchschnittsinflation in den Vereinigten Staaten mehr als neun Prozent. Nun, neun Monate nach dem Ausbruch der ersten globalen Finanzkrise, droht in vielen Teilen der Welt die Gefahr, dass sich das Geld beschleunigt entwertet.

In der Schweiz wurde letztmals 1981 und 1991 von Inflationsproblemen gesprochen. Damals betrug die Teuerung 6,5 respektive 5,9 Prozent. In der Folge reduzierte sich die Inflationsrate bis auf null im Jahre 1998; dank einer gezielten Tiefzinspolitik, die im Wesentlichen von Amerika ausging. Danach pendelte die Teuerung lange um ein Prozent herum.

Das war die beste aller Welten für Investoren, Bankiers und Financiers rund um den Globus: haufenweise Geld, mit dem sich alle erdenklichen Investitions- und Spekulationsvorhaben günstig finanzieren liessen: Aktien, Hedge-Funds, Private Equity, Rohstoffe und eben auch zweitklassige Hypothekarkredite, besser bekannt als Subprime Mortgages.

Nun aber ist die Inflation in der Schweiz auf 2,4 Prozent gestiegen. So hoch war sie letztmals vor 14 Jahren. Die Schweizerische Nationalbank erwartet bereits eine durchschnittliche Inflationsrate von 2 Prozent für das ganze Jahr 2008, wobei einzelne Schwankungen unter dem Jahr zu monatlichen Preisschüben von drei und mehr Prozent führen könnten.

Im Idealfall wirken die Notenbanken der Inflation entgegen, indem sie die Zinsen erhöhen. Das verteuert das Geld und drosselt die wirtschaftliche Aktivität. So geht die Teuerung zurück. Seit jedoch die Finanzkrise rund um den Globus für Verunsicherung und Rezessionsangst sorgt, stecken die Währungshüter in einem Dilemma: Angesichts der Inflation sollten sie die Zinsen erhöhen. Doch um der drohenden Rezession und den Verwerfungen in der Finanzbranche entgegenzuwirken, neigen die Zentralbanken nun eher zu Zinssenkungen – was wiederum die Teuerung anheizt. Ein gefährliches Spiel.

Hohe Inflation führt oft zu einer schweren Konjunkturabkühlung oder sogar zu Rezession – einem realen Rückgang der Wirtschaftsleistung eines Landes. Denn Preisschübe senken die Nachfrage, und Investoren und Angestellte kümmern sich statt um ihre eigentliche Arbeit vermehrt um die Sicherung ihrer Vermögen. Am stärksten von der Inflation betroffen sind die Mittelschicht und wohlhabende Leute. Sie konsumieren viel und erhalten kaum staatliche Unterstützung, was sie den meisten Preissteigerungen viel mehr aussetzt als wenig verdienende Menschen. Unter diesem Gesichtspunkt dürfte die aktuelle Inflation in der Schweiz bereits zwischen drei und sechs Prozent betragen, wie der Schweizer Ökonom und Börsenexperte Marc Faber sagt.

Damit steht er nicht alleine da. Gottfried Heller, ein langjähriger Weggefährte der verstorbenen Börsenikone André Kostolany, warnt sogar vor einem «Megatrend Inflation». Angenommen, die jährliche Teuerung läge bei 3,5 Prozent, dann würde sich der Wert eines Vermögens innert zwanzig Jahren halbieren. Was auf Anhieb kaum zu fassen ist, lässt sich mit dem Taschenrechner leicht überprüfen.

Eindeutig ist das Bild der wilden Preisspirale nach oben bisher aber nicht. «Rogoff leidet unter Inflationsparanoia», sagt der Schweizer Preisüberwacher Rudolf Strahm. «Ich warne vor diesem Inflationsgerede. Dafür ist es zu früh.» Strahm begründet seine Aussage mit unterschiedlichen Preisfaktoren, die sich gegenseitig neutralisieren würden. Während die Indizes für Rohstoffe wie Erdöl stiegen, verbillige der wiedererstarkte Schweizer Franken die Importe, vor allem gegenüber dem Euro, der für rund achtzig Prozent der Einfuhren entscheidend ist. Zudem sorge die starke Konkurrenz im Detailhandel für eine spürbare Entwarnung an der Inflationsfront, sagt Strahm. Eine leichte Teuerung sei vergleichsweise harmlos. Oder auf die aktuellen Verhältnisse bezogen: «Ein Prozent Inflation ist volkswirtschaftlich weniger dramatisch als ein Absturz des globalen Bankensystems.»

Auch der frühere Nationalbank-Direktor Kurt Schiltknecht sieht keine eindeutigen Indizien für eine nachhaltige Teuerung. «Die Liquiditätsspritzen des Fed sind an sich noch nicht inflationstreibend», sagt der Ökonomieprofessor. «Solange das Geld nach Beruhigung der Situation sofort wieder abgezogen wird, passiert bei der Inflation kaum etwas.» Schiltknecht verweist auf die umfangreichen kurzfristigen Kredite der Notenbanken unter Führung des Fed. Statt die Geldmenge durch Zinssenkungen noch stärker permanent auszuweiten, stellt die Schweizerische Nationalbank vorerst für 28 Tage Dollar-Liquidität gegen kreditwürdige Wertschriften zur Verfügung. Die Kunst der Notenbankpolitik ist laut Schiltknecht das richtige Timing.

«Was passiert, wenn die Nationalbank das Geld abziehen will? Werden die Banken dann erneut nervös?», fragt der Ökonom.Schon zwischen Dezember und Februar schleuste die schweizerische Zentralbank vier Milliarden Dollar ins Bankensystem, die sie danach wieder einzog. Nun stellt sie bereits sechs Milliarden Dollar zur Verfügung. Die Notenbanken gehen laut Schiltknecht tendenziell auf Nummer sicher und akzeptieren eher etwas Inflation, statt den Kollaps grosser Banken mit unabsehbaren Folgen für die Wirtschaft zu riskieren.

«Zu Recht», sagt Wirtschaftshistoriker Hansjörg Siegenthaler, «ohne Stützungsmassnahmen droht eine Kettenreaktion im Finanzsystem.» Entscheidend sei, das verlorengegangene Vertrauen in die Solidität der Banken wiederherzustellen. «Da gehe ich mit Josef Ackermann einig», sagt Siegenthaler. Der Chef der Deutschen Bank hatte ein abgestimmtes Vorgehen der Banken und der öffentlichen Hand gefordert und damit einen Sturm der Entrüstung provoziert. Dass der Staat und damit der Steuerzahler für die Sünden der bonusgetriebenen Bankiers geradestehen müssten, sei verheerend, lautete der Tenor, und der Schweizer Ökonom Thomas Straubhaar (siehe Seite 38) brachte es in deutschen Medien plakativ auf den Punkt: «Damit sollen Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden.»

Nur: Was sind die Optionen? Historiker Hansjörg Siegenthaler vergleicht die aktuelle Krise mit jener vor achtzig Jahren. Der Börsencrash vom Oktober 1929 wurde zum Auftakt einer schweren Depression, die einen Grossteil der dreissiger Jahre überschattete, ein Heer von Arbeitslosen schuf und das Vermögen unzähliger Investoren vernichtete. Wie heute, neun Monate nach Ausbruch der Kreditkrise, war auch in den dreissiger Jahren lange Zeit unklar, welchen Verlauf die Weltwirtschaft nehmen würde. «Das ganze Jahr 1930 war ambivalent», sagt Siegenthaler, «die Gewinnerwartungen der Unternehmen zeigten keinen eindeutigen Trend.» Damals behielten die Notenbanken die Geldmengenzügel straff in den Händen und verschärften die Lage. Ab 1931 zweifelte niemand mehr am Ausmass der Krise.

Amerika auf dem Abweg

Die Lehre aus dem Debakel von 1930 war später eine grosszügige Geldversorgung – mit dem Risiko kurzzeitiger Inflation. Ende der achtziger Jahre zeigte sich das gut: Tatsächlich verhinderten die Notenbanken nach dem Börsencrash vom Herbst 1987 eine Depression, allerdings schoss die Teuerung drei Jahre später in die Höhe. Alsbald traten die Zentralbanken auf die monetäre Bremse, was deutliche Spuren in der Wirtschaft hinterliess. Die USA gerieten in eine Rezession; die Schweiz fand gar erst 1996 auf den Wachstumspfad zurück.

Als im Frühling 2000 die Technologieblase platzte und im September 2001 die New Yorker Terroranschläge Rezessionsängste auslösten, flutete das Fed das Finanzsystem. Mögliche Langzeitfolgen dieser Feuerwehrübungen schilderte der Investor Warren Buffett vor vier Jahren in seiner Parabel «Squanderville versus Thriftville». Der Essay erschien im Magazin Fortune. Buffett erzählt von zwei autarken Inselvölkern, von denen sich dasjenige von Squanderville (Verprasserstadt) mit der Zeit von den tüchtigen Bürgern von Thriftville (Sparerstadt) aushalten lässt. Als die Zinslast immer stärker auf Squanderville drückt, versucht die Regierung die Schulden durch Inflation zu reduzieren. Da kaufen die Thriftville-Investoren statt verzinsliche Obligationen Land, Häuser und Aktien. Zuletzt gehört ihnen ganz Squanderville.

Buffett verwies 2003 auf den schwachen Dollar als Folge eines Amerika, das sich seit den siebziger Jahren auf dem Abweg von Squanderville befinden würde. Aus einem vermögenden Nettoinvestor sei sein Land zu einem armen Schlucker geworden, schrieb der Milliardär und forderte als Vertreter einer liberalen Marktwirtschaft staatliche Interventionen – allerdings als Exporthilfe statt durch eine Fortsetzung der gescheiterten Fed-Therapie des leichten Geldes.

«Vorübergehende Blutspur»

Das Börsenbeben schlägt sich verzögert auf die Wirtschaft nieder. In der Schweiz gibt es Krisenanzeichen.

Noch ist unklar, ob die Schweiz in eine Rezession schlittert. Der Konjunkturmotor läuft weiterhin rund. Viele Firmen verzeichnen einen guten Geschäftsgang. Der Arbeitsmarkt ist stabil und die Konsumentenstimmung breit abgestützt. Doch: Der Aufschwung wird sich abflachen. Denn die Erfahrung zeigt, dass die Wirtschaftsentwicklung nicht sofort auf Verwerfungen am Finanzmarkt reagiert. «Das derzeitige Börsenbeben», sagt Preisüberwacher Rudolf Strahm, «wird mit einer Verzögerung von 12 bis 18 Monaten auf die Realwirtschaft durchschlagen. Darum befinden wir uns jetzt an einem Wendepunkt.»

Dieser Meinung ist auch Peter Steiner, Präsident der Generalunternehmerin Karl Steiner AG. Er stellt aber bereits fest, dass neue Bauprojekte schärfer kalkuliert würden: «Wir müssen heute mehr eigenes Kapital einsetzen, da wir nicht mehr mit grosszügigen Bankkrediten rechnen können.» Cash, also Bargeld, ist derzeit viel wert. «In Zukunft müssen wir alle auf ein gesundes Verhältnis zwischen Eigen- und Fremdkapital achten», sagt Steiner.

Tatsächlich wird es für die Finanzhäuser schwieriger, günstiges Geld zur Verfügung zu stellen. Sie haben in den letzten Jahren ihre Geschäftsbereiche kostspielig ausgebaut. Wenn nun die Wirtschaft lahmt und damit die Erträge sinken, haben sie zu hohe Kosten. «Sie werden sparen müssen und neue Kredite teurer vergeben», sagt Finanzexperte Matthias Memminger von der Beratungsfirma Pricewaterhouse Coopers. Das wird vor allem kleine und mittelgrosse Unternehmen betreffen, die bislang von der tiefen Zinssituation profitiert haben. Hinzu gesellt sich die Dollar-Schwäche, die jenen Firmen zusetzt, die einen Grossteil ihrer Güter oder Dienstleistungen exportieren. Der starke Franken macht sie weniger konkurrenzfähig.

Auch die Werbebranche spürt früh wirtschaftliche Veränderungen. «Die Grossbanken haben einen rechten Teil ihrer Kampagnen auf Eis gelegt. Zum Glück läuft der Rest der Wirtschaft noch gut», sagt Frank Bodin, Chef der Werbeagentur Euro RSCG und Präsident des Verbands der grössten Schweizer Werbefirmen. Und weil die Finanzbranche zu den besten Werbekunden gehört, werden andere Bereiche wie der Handel oder die Konsumgüterindustrie diesen Ausfall kaum kompensieren. «Es gibt Krisenanzeichen», sagt Bodin. Andere Beobachter schlagen Alarm. Thomas Held, der Chef des Think-Tanks Avenir Suisse, ist überzeugt, dass die Schweiz von der Krise stärker als andere Länder betroffen ist – weil die Finanzbranche hierzulande ein so grosses Gewicht habe. Banken und Versicherungen tragen 15 Prozent zum Bruttoinlandprodukt bei. Wenn der wichtigste Wirtschaftszweig nicht in Bestform ist, gibt es ein Problem. «Das hat unsere Politik noch nicht richtig erfasst», sagt Held.

Von der Krise wird besonders der Wirtschaftskanton Zürich betroffen sein. Jeder fünfte Arbeitsplatz ist vom Finanzsektor abhängig. «Im internationalen Vergleich haben Finanzplätze wie New York, London, Frankfurt und Paris in ihren Regionen sowohl beschäftigungs- als auch wertschöpfungsmässig ein geringeres Gewicht als Zürich hierzulande», sagt Irene Tschopp von der Zürcher Volkswirtschaftsdirektion.

Diese Abhängigkeit reisst ein Loch in die Kantonskasse. Bei budgetierten Einnahmen von 5,7 Milliarden Franken für 2008 und 5,9 Milliarden für 2009, wird derzeit mit einem Ausfall von bis zu 250 Millionen Franken gerechnet. Immerhin stammen vier Fünftel der Steuererträge von natürlichen Personen. Weil Zürich als Wohnkanton immer beliebter wird, wächst das Steueraufkommen. Der Stadtzürcher FDP-Finanzvorstand Martin Vollenwyder spricht von einer «vorübergehenden Blutspur». In Genf stellt man sich nach dem überraschenden Budgetüberschuss 2007 nun auf ein Defizit ein. Der Stadtkanton ist mit seinen Privat- und Auslandbanken sowie als Zentrum des Rohstoffhandels seit je von der Geldbranche abhängig.

Die Schweizer Wirtschaft wird ihre Anpassungsfähigkeit in nächster Zeit unter Beweis stellen, vor allem in der Biotechnologie, in der Medizinal- und Mikrotechnik. Entscheidend wird aber sein, wie UBS und Credit Suisse wieder auf Kurs kommen. Solange sie wanken, wackelt die Schweiz. Beim Kostenmanagement und beim Ausbau ertragsstarker Geschäftsfelder können sie selber etwas dazu beitragen – in Sachen Vertrauen sind sie hingegen auf die Gunst der Öffentlichkeit angewiesen. Das wird ihre grösste Herausforderung.


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