Der 100-Millionen-Euro-Coup

Räuber haben in Zürich vier weltberühmte impressionistische Bilder gestohlen, darunter Cézannes „Knabe mit der roten Weste“. Es ist wohl der bisher größte Kunstraub der Schweiz. (Zeit online, 11. Februar 2008)

Sonnenschein, frühlingshafte Temperaturen, im Park zwitschern die ersten Vögel. Drinnen in der zweistöckigen, Efeu-überwucherten Villa im Nobelviertel von Zürich bewundern am Sonntagnachmittag 15 Besucher einige der berühmtesten Kunstgemälde der Welt. Die Angestellten des Emil-Bührle-Privatmuseums schauen verstohlen auf die Uhr. Halb fünf, noch eine halbe Stunde bis zum Feierabend.

Plötzlich schwingt die Eingangstür auf, und herein stürzen drei mittelgroße, mit dunkler Sturmhaube maskierte Kerle. Einer zwingt den Wächter mit gezücktem Revolver zu Boden, die zwei anderen krempeln die Ärmel hoch. Sie wissen, wo sie fündig werden. Denn jeder, der die Homepage des Bührle-Museums bis Montagmorgen besuchte, konnte sehen, wo die wertvollsten Gemälde aufgehängt sind.

Im Großen Saal im Parterre heben die Räuber die ersten vier Werke, die gleich links vom Eingang an der Wand hängen, aus den Sicherheitsangeln. Vom absichtlich wuchtigen Rahmen und dem schweren Glas, das einen ungeplanten Abtransport erschweren soll, lassen sie sich nicht beeindrucken. Vor den Augen der erschrockenen Zeugen schnappen sie sich Claude Monets Mohnblumen bei Vétheuil von 1880, das bekannte Ölgemälde mit drei Damen in rotem Mohn vor einem kleinen Dorf mit markantem Kirchturm im Hintergrund. Beim zweiten handelt es sich um Edgar Degas‘ Graf Lepic und seine Töchter von 1871, beim dritten um Vincent van Goghs Blühender Kastanienzweig, das der Holländer kurz vor seinem Tod im Haus eines Freundes malte.

Schließlich verpassen es die Diebe nicht, auch noch das berühmteste und wertvollste Werk der Bührle-Sammlung abzuzügeln. Der Knabe mit der roten Weste schuf der Franzose Paul Cézanne zwischen 1894 und 1895. Die drei übrigen Versionen von Cézannes Motiv mit dem sitzenden Jungen in weißem Hemd, rotem Gilet und blauen Hosen befinden sich ausnahmslos in Amerika. Der Wert der vier gestohlenen Werke beläuft sich nach Angaben der Museumsleitung auf 180 Millionen Schweizer Franken, das sind etwa 110 Millionen Euro.

Nach drei Minuten ist der Spuk vorbei. Kaum haben die beiden Lastenträger ihre wertvolle Fracht in ihrem Fluchtwagen verstaut, lässt der Mann mit der Pistole von seinen bedrohten Opfern ab und spurtet zu den Komplizen, dann brausen sie stadtauswärts davon. Wie Zeugen später aussagen, ragen noch Teile der erbeuteten Kunstwerke aus dem Kofferraum.

Davon bekommen die ausrückenden Beamten der Zürcher Polizei allerdings nichts mehr zu sehen. Obwohl sie innerhalb weniger Minuten am Tatort erscheinen, finden sie im Museum nur noch vier weiße Flecken an der Wand und geschockte Menschen vor, von denen einzelne psychologisch betreut werden müssen.

Nun ist das Rätselraten groß: Mehr als dass die Räuber zirka 1,75 Meter groß und maskiert sind, einer von ihnen mit einem slawischen Akzent spricht und das Fluchtauto weiß und alt ist, wissen sie nicht. So sind die Fahnder auf die Mithilfe der Bevölkerung angewiesen. 100.000 Franken Belohnung sollen wertvolle Hinweise bringen.

Der Schweizer Kunstfachmann Thomas Krayenbühl spricht am Montag von einem „grausamen Verlust für den Kunstplatz Zürich“ und vergleicht den dreisten Raub mit jenem aus der amerikanischen Gardner-Kollektion. Aus dem Museum in Boston wurden 1990 mehrere wertvolle Kunstwerke entwendet, die teilweise wiedergefunden wurden. „Entweder handelt es sich um einen Auftragsraub, oder die Täter versuchen die Versicherung zu erpressen“, sagt Krayenbühl, der lange Präsident der Zürcher Kunstfreunde war. Private Museen würden oft höhere Diebstahlversicherungen als staatliche Häuser abschließen, deshalb gerieten sie eher ins Visier von Dieben, die es auf ein Geschäft mit der Versicherung abgesehen haben.

Alle wichtigen gestohlenen Werke würden in einem internationalen Register geraubter Kunst aufgeführt, sagte der Kurator des Bührle-Museums Lukas Gloor während einer stark besuchten Pressekonferenz am Montagnachmittag. „Diese Bilder sind auf dem Kunstmarkt nicht verkäuflich“, ist sich der Kunst-Manager sicher.

Ein Sprecher der Bührle-Familie, die 1960 rund 200 Kunstwerke einer Stiftung vermachte mit dem Zweck, die Bilder der Öffentlichkeit zu zeigen, sprach auf Anfrage von einem „dramatischen Schlag“ für die Nachkommen von Emil Bührle. Der in die Schweiz ausgewanderte deutsche Industrielle hatte die Werkzeugmaschinenfabrik Oerlikon Bührle & Co. ab 1936 zu einer weltbekannten Waffenschmiede ausgebaut.

„Wir haben uns verschiedene Maßnahmen zur Steigerung der Sicherheit überlegt“, sagte der Bührle-Sprecher, der darum bat, seinen Namen nicht zu nennen, da sich die Familie nicht öffentlich zum Raub äußern will. Der Einbau einer Sicherheitsschleuse sei ebenso erwogen worden wie die automatische Verriegelung des gesamten Gebäudes, sobald der automatische Alarm ausgelöst würde. „Doch bei einem bewaffneten Raubüberfall wären immer noch Menschenleben in Gefahr gewesen, und bei der Abriegelung hätte unter den Besuchern Panik ausbrechen können“, begründet er den Verzicht auf weitergehende Sicherheitsmaßnahmen. Deshalb sei man der Ansicht, genügend Vorkehrungen getroffen zu haben. „Wir haben unser Sicherheits-Dispositiv gemacht“, sagte der Sprecher.

Ein Sprecher der Zürcher Polizei sagte, es handele sich für die Schweiz um den größten Kunstraub aller Zeiten und vermutlich um einen der größten Europas. Ob ein Zusammenhang zum Überfall von vergangenem Mittwoch besteht, ist offen. Unbekannte, die sich in einer Ausstellung im Kulturzentrum eines Shoppingcenters 30 Autominuten außerhalb Zürichs entfernt versteckt hielten, hatten zwei Ölgemälde des spanischen Künstlers Pablo Picasso geraubt und befinden sich seither auf der Flucht.


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