„Keiner darf sich entschuldigen“

Die Flug-Katastrophe von Überlingen, bei der vor fünf Jahren 71 Menschen starben, war vermeidbar. Ein Gericht sprach heute vier leitende Angestellte der Flugsicherungsbehörde Skyguide schuldig.

Bülach – Die Schuld am Überlinger Flugunglück tragen die operativen Leiter der Schweizer Flugsicherungsbehörde Skyguide. Wenn diese der Sicherheit – dem höchsten Gut in der Luftfahrt – die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt hätten, wäre der Tod von 49 russischen Kindern und 22 Erwachsenen im Juli 2002 zu verhindern gewesen. Deshalb hat das zuständige Gericht im Zürcher Vorort Bülach heute drei Skyguide-Chefs zu bedingten Gefängnisstrafen von je zwölf Monaten verurteilt, ein vierter Manager muss eine hohe Geldstrafe bezahlen. Vier weitere Angeklagte, welche in der Unglücksnacht untere Chargen in der Flugsicherung besetzt hatten, wurden freigesprochen.

Es ist die erste juristische Aufarbeitung der Tragödie, bei der eine russische Tupolev 154 mit einer Feriengesellschaft an Bord und eine Frachtmaschine des Typs Boeing 757 in 11.000 Metern Höhe in nachtleerem Himmel zusammen prallten. Das Urteil lässt nichts an Klarheit zu wünschen übrig. Die Schuld trägt weder ein vermeintlich unfähiger Lotse, der die zwei Jets auf Kollisionskurs schickte, noch die russischen Piloten, die dem Skyguide-Mann Folge leisteten statt dem bordeigenen Warnsystem. Am Anfang der Unglückskette und damit primär für die Katastrophe verantwortlich sind vielmehr die Verantwortlichen der zuständigen Schweizer Flugsicherung. Deren Arbeitsweise zeichnete sich laut dem Richterspruch durch Schludrigkeit, Desinteresse und mangelndes Durchsetzungsvermögen aus.

Mit zwölf Monaten Gefängnis für die obersten Verantwortlichen fällt der Schuldspruch hart aus und dürfte die Karriere der Betroffenen beenden. Doch die Richter begründeten heute Nachmittag vor zahlreichen Journalisten aus Deutschland und Russland sowie weiteren Anwesenden ausführlich, warum sie kein Verständnis für deren Verhalten zeigten. Safety first, lautet die wichtigste Regel im Fluggeschäft. Die Sicherheit hat Priorität und überragt sämtliche übrigen Ziele in der Aviatik. Deshalb, so das Gericht, seien zwei Aspekte in der Luftfahrt entscheidend: Redundanz und Diversität. Ersteres meint das Vorhandensein mehrerer Sicherheitssysteme zur Verhinderung von Abstürzen und Unglücksfällen, bei letzterem geht es um verschiedene Systeme, die zwar das Gleiche sicherstellen, jedoch unterschiedlich funktionieren.

Gerichtspräsident Rainer Hohler brachte diese Denkweise der Flugindustrie mit Blick auf das Unglück von Überlingen auf den Punkt: „Kein Angeklagter darf sich damit entschuldigen, dass ein Anderer das Unglück hätte verhindern können.“ Es gebe eben keine geteilte Verantwortung, um Tragödien in der Aviatik zu verhindern. Vielmehr sei jeder im Rahmen seiner Funktion für die Sicherheit verantwortlich.

Sicherheit war für die Skyguide-Chefs kein Thema

Genau diese Verantwortung hatten die drei obersten operativen Leiter der Flugsicherungsstelle am Flughafen Zürich nach richterlicher Auffassung sträflich vernachlässigt. Insbesondere ließen sie es zu, dass in der Unglücksnacht vom 1. auf den 2. Juli 2002 ein einziger Lotse im Überwachungsraum saß, während sich sein zugewiesener Kollege in eine Ruhezone zurückzog. Diese Arbeitsweise hatte bei Skyguide schon seit Jahren Tradition, sie widersprach jedoch internationalen Gepflogenheiten. Und selbst bei den Schweizern gab es dafür genaue Vorschriften. SMOP, also die so genannten Single Manned Operation Procedures, kurz Einmannbetrieb, waren nur erlaubt, wenn unter anderem alle Systeme einwandfrei funktionierten.

Gerade dies war in der Unglücksnacht nicht der Fall. Mehrere Techniker nahmen damals Wartungs- und Umstellungsarbeiten an den Computern, den Radar- und den Warnsystemen vor. So stand den Fluglotsen an ihren Stationen beispielsweise das optische Warnlicht nicht zur Verfügung, und auch die vorprogrammierten Telefonverbindungen zu den überwachten Flughäfen und außenstehenden Flugsicherungen waren nicht in Betrieb. Stattdessen mussten die entsprechenden Nummern von Hand gewählt werden.

Die erschwerten Bedingungen hätten zwingend zu einem Verbot des üblichen Pausengangs des zweiten Lotsen führen müssen. Nur war dies für sämtliche zuständigen Skyguide-Vorgesetzten offenbar kein Thema. Dabei, so Richter Hohler, hätte ein einfaches Verbot genügt und auch nichts gekostet. „Der zweite Lotse war ohnehin da und musste bezahlt werden“, meinte der Gerichtspräsident beim Verlesen der Urteilsbegründung.

Der Richter zeigte in seinem klaren und in nüchterndem Tonfall vorgelesenen Urteil denn auch kein Verständnis für die Ansicht der Angeklagten, wonach der zuständige Lotse die Hauptschuld am Unglück trage. In ihren Aussagen vor Gericht hatten diese im Frühling argumentiert, der Lotse hätte durch unprofessionelles Arbeiten den Unfall selbst zu verantworten. Statt die Überwachung des zugeteilten Luftsektors und die gleichzeitige Regelung eines Anflugs auf den Flughafen von Friedrichshafen auf derselben Arbeitsstation durchzuführen, was dem üblichen Vorgehen entspreche, habe dieser dafür zwei Terminals benutzt. So musste sich der Lotse hin- und herbewegen und merkte lange nicht, dass sich auf einer der Stationen eine Kollision abzeichnete. Seine Korrektur kam danach zu spät. Vielleicht sei dies nicht die beste Lösung gewesen, so das Gericht. Völlig abwegig sei sie aus der Sicht des Lotsen in dessen Lage allerdings nicht gewesen. Vielmehr könne sie als vertretbar bezeichnet werden, und die Zuständigen hätten damit rechnen müssen.

Der Urteilsspruch verhindert, dass alle Schuld einem in die Schuhe geschoben wird, der sich nicht mehr wehren kann. Der aus Dänemark stammende Skyguide-Lotse wurde nämlich Anfang 2004 ermordet. Ein Russe, der beim Überlinger Unglück seine Frau und die beiden jungen Kinder verloren hatte, erstach den Dänen in dessen Garten mit einem langen Messer. Der Täter wurde in der Schweiz zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt.


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