Ankläger im Nebel

4000 Bundesordner Akten hat die Zürcher Staatsanwaltschaft für den Swissair-Strafprozess zusammengetragen. Gesucht hat sie alles, gefunden fast nichts. Ein politischer Schauprozess?

Das Erstaunlichste am Swissair-Strafprozess ist, dass er überhaupt zustande kam. Denn die anklagende Zürcher Staatsanwaltschaft hat trotz jahrelangen Ermittlungen und kilometerlangen Aktenstrassen keine ins Auge stechenden kriminellen Machenschaften zutage fördern können. Stattdessen verhedderte sie sich, nahm die Angeklagten mal in Schutz, nur um im nächsten Moment massive Vorwürfe zu erheben, oft ohne entsprechende Faktenbasis. Der Schluss drängt sich auf, dass die Anklage unter normalen Umständen eingestellt oder in ein paar unbedeutenden Schnellverfahren erledigt worden wäre.

Doch geht es um die Swissair, kennt dieses Land keine Normalität. Emotionen geben den Takt an, fast nie der Verstand. In der zur Gerichtsarena umfunktionierten Stadthalle Bülach droht ein Schauprozess, den wohl die Politik am meisten wollte, um nicht Gefahr zu laufen, vom Wähler dereinst abgestraft zu werden. Uns Kleine hängt man, die da oben lässt man laufen – diesen Eindruck galt es zu vermeiden.

Dass der Leitende Staatsanwalt Christian Weber möglicherweise vom kantonalen Justizdirektor, SP-Regierungsrat Markus Notter, zur Anklageerhebung ermuntert wurde, ist nicht auszuschliessen. Schliesslich stammen die Angeklagten aus dem bürgerlichen Lager und stehen somit Notter politisch nicht nahe. Auffällig war auf jeden Fall, wie der Zürcher Justizdirektor bereits zu einem frühen Zeitpunkt dafür sorgte, dass die ermittelnde Staatsanwaltschaft mit zusätzlichen personellen Ressourcen verstärkt wurde.

Beinahe wären die Anstrengungen ohne Ergebnis geblieben. Denn Chefermittler Hanspeter Hirt soll nach endlosen Einvernahmen und dem Studium von tonnenschwerem Aktenmaterial im Jahr 2005 vorgeschlagen haben, das Verfahren ohne Anklage einzustellen. Das behauptet ein Zürcher Anwalt, der nicht namentlich genannt sein will. Der Jurist vertritt keinen Angeklagten, hat aber unter den Swissair-Verteidigern Bekannte. «Hirt wollte einstellen, worauf sein Chef Weber die Führung des Falls an sich riss und schliesslich die Swissair-Leute vor den Richter zerrte», behauptet der Rechtsanwalt.

Ob diese Darstellung zutrifft, lässt sich nicht nachweisen. Die Staatsanwaltschaft bezieht keine Stellung zu ihrer Anklage. Und die Angeklagten und deren Rechtsvertreter haben sich entschieden, erst vor Gericht ihre Argumente auszubreiten.

Allein das Studium von Tausenden von Protokollseiten, die im Zuge der Ermittlungen aus Zeugen- und Beschuldigteneinvernahmen angefertigt wurden, führt zum Fazit, dass hier der Berg eine Maus geboren hat. Die Staatsanwaltschaft, im verschachtelten und unübersichtlichen Swissair-Dschungel verirrt, führte mit einzelnen Beschuldigten fünf, zehn oder noch mehr Einvernahmen. Und irgendwann drehten sie sich nur noch im Kreis, ohne zusätzlichen Erkenntnisgewinn, dafür mit steigender Ratlosigkeit. Statt tiefer zu graben, gerieten die Ankläger vom Hundertsten ins Tausendste, verloren sich in Details.

Da überrascht es kaum, dass sich die Staatsanwaltschaft den Wind selbst aus den Segeln genommen hat. Als sie am 31. März 2006 ihre Strafanzeige der Öffentlichkeit präsentierte, sprach Oberstaatsanwalt Andreas Brunner, ein früherer PR-Mann, den folgenschweren Satz: «Die Angeklagten waren keine eigentlichen Wirtschaftskriminellen, sondern Menschen, die primär
den Untergang der SAirGroup verhinden wollten.» Erst danach fügte er an: «Dies allerdings teilweise leider mit unlauteren Machenschaften.»

Mit Verlaub: Worum sonst als um die subjektive Schuld soll es in einem Strafprozess gehen? Nur wer im Bewusstsein handelt, gegen das Gesetz zu verstossen, wird vom Staat zur Rechenschaft gezogen; nur wer als Manager und Aufsichtsperson bewusst seine Sorgfaltspflichten verletzt, muss mit Busse oder Gefängnis rechnen. Hingegen reicht Fahrlässigkeit, also die fehlerhafte Erledigung einer Aufgabe, die ein anderer vielleicht besser bewältigt hätte, nicht für eine Verurteilung nach dem Strafgesetz, sondern lediglich für eine zivilrechtliche Haftung. Kurz: Der Angeklagte muss wissen, dass er das Gesetz bricht, sonst gilt er als unschuldig. Das ist die Hürde, welche die Staatsanwaltschaft nehmen muss, um vor einem Strafgericht zu bestehen.

Just da liegt nun aber der fundamentale Unterschied zwischen den spektakulären Wirtschaftsprozessen in den Vereinigten Staaten und jenem der Swissair. Wenn die Swissair-Manager und -Verwaltungsräte, wie Brunner sagte, «den Untergang der SAirGroup verhindern» wollten, dann fehlt der subjektive Vorsatz, jemandem Schaden zufügen zu wollen. Bei Enron und WorldCom, zwei einstigen Unternehmensriesen, hatte das Führungspersonal in die Kasse gegriffen und damit Eigentümer und Gläubiger vorsätzlich geschädigt. Dafür schickten die Richter die Chefs für 20 und mehr Jahre hinter Gitter.

Im Swissair-Strafprozess dürfte es kaum ein Zufall sein, dass die Staatsanwaltschaft das geforderte Strafmass gegen die 19 Angeklagten bis zur Verhandlung geheim gehalten hat. Weil Brunner und sein Chefbeamter Weber nach eigenen Worten keine klassischen «Wirtschaftskriminellen» ins Visier nehmen, dürften ihre Anträge tief und mit Bussen zu erledigen sein. Schlimmstenfalls müssen die Angeklagten mit bedingten Kurzstrafen rechnen. «Ins Gefängnis kommt auf jeden Fall niemand», prognostizierte kürzlich der Zürcher Strafrechtler Daniel Jositsch.

Ins Bild passt, dass die Staatsanwaltschaft kurz vor dem Prozess eine Art Nebelpetarde zündete. Dem Angeklagten Eric Honegger, freisinniger Ex-Finanzdirektor von Zürich und gescheiterter Swissair-Präsident, wirft sie vor, Abgangsleistungen über rund 150 000 Franken am Fiskus vorbeigeschleust zu haben. Ohne mögliche Steuerhinterziehung zu beschönigen – wichtig für den Swissair-Fall ist dieser Nebenschauplatz nicht. Bereits beim Abgang von Honegger als Swissair-Präsident ging es drunter und drüber: Am Schluss wusste man nicht mehr, ob er gekündigt hatte oder ob ihm gekündigt worden war.

Exemplarisch zeigt sich die Schwäche der Ankläger am Hauptvorwurf. Die Herren mit Dame (Vreni Spoerry) des Verwaltungsrats der damaligen Muttergesellschaft SAirGroup stimmten an ihrer mittlerweile legendären Sitzung vom 24.März 2001 am Hauptsitz Balsberg dem Antrag unter der Bezeichnung 6/01 zu. In der Folge wurden werthaltige Tochterfirmen wie die Flugabfertigerin Swissport und die Verpflegerin Gate Gourmet in die Sub-holding SAirLines verschoben. Sinn und Zweck der Übung war, das finanzielle Loch der SAirLines zu stopfen, die neben den Urgesellschaften Swissair und Cross-air auch die Beteiligungen an den berüchtigten «Schrott-Airlines» hielt.

Warum dieser Beschluss 6/01 kriminell sein soll, versuchen Christian Weber und sein Team in ihrer Anklageschrift vom 15.März 2006, die sie später auf Befehl des zuständigen Gerichts nachbessern mussten, mit abenteuerlichen Zahlenschiebereien und kühnen Behauptungen zu belegen. SAirLines sei bereits Ende Dezember 2000 mit über zwei Milliarden Franken überschuldet gewesen, schreiben sie. Mit der Verschiebung werthaltiger Tochterfirmen aus der Oberholding SAirGroup in die Subholding SAirLines seien deren finanzielle Probleme nur auf dem Papier gelöst worden. «Die SAirLines stand nicht mehr aufrecht», behauptet die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklageschrift. Das sei auch den Verwaltungsräten bekannt gewesen, genauso wie sie gewusst hätten, dass «die Verschuldung weiter wachsen» würde und es für die «finanziell stark bedrängte» Holdinggesellschaft, also die SAirGroup, unmöglich gewesen sei, «von SAirLines AG eine adäquate Gegenleistung zu erhalten».

Fazit der Staatsanwaltschaft: Die Subholding SAirLines mit ihren maroden Beteiligungen sei nichts als ein tiefes schwarzes Loch gewesen, in das nun die Verantwortlichen der Mutter wertvolle Gesellschaften hineinwarfen; und zwar im Wissen, dass damit das Problem bei den Airlines bestehen bleiben würde. Den Schaden der Mutter, die keinen direkten Zugriff mehr auf die werthaltigen Töchter hatte, beziffert die Staatsanwaltschaft mit 2,6 bis 9,1 Milliarden Franken.

Dieser Hauptvorwurf an den VR der Swissair-Gruppe umfasst allein zehn der hundert Seiten der Anklageschrift. Neben komplizierten Sätzen besteht er auch aus mehreren Tabellen über die Wertveränderungen bei der Muttergesellschaft und ihrer Subholding SAirLines, mit vielen Additionen und Subtraktionen in Milliardenhöhe. Der Wust von Text und Zahlen sowie ihre Ausführlichkeit und Schärfe wirken beeindruckend. Doch dem Anklagepunkt, der zentral dafür ist, dass nun sämtliche Verantwortliche des Desasters vor dem Richter antraben müssen, mangelt es an drei entscheidenden Umständen:

1. Die Kernthese, dass die Subholding SAirLines bereits Ende 2000 überschuldet war, bleibt unbelegt.

2. Dass durch die Verschiebung werthaltiger Beteiligungen von der Holding nach unten zur SAirLines Gläubiger benachteiligt wurden, stimmt nicht.

3. Die Darstellung des Vorgangs als etwas Asymmetrisches, bei dem ausschliesslich Werthaltiges verschoben wurde, widerspricht den Tatsachen.

Im Folgenden wird auf diese drei Punkte eingegangen und aufgezeigt, dass die Staatsanwaltschaft ohne ausreichendes Belastungsmaterial Anklage erhoben hat. Ob dahinter Druck von Politikern stand, die sich bei einer Einstellung der Ermittlungen vor dem Volkszorn bei den nächsten Wahlen fürchteten, bleibt Spekulation. Auf jeden Fall haben die Zürcher Ankläger mit ihrer mangelhaften Arbeit die heisse Kartoffel an die Richter weitergereicht. Sollen die sich die Finger daran verbrennen, lautet offenbar das Motto.

Zum ersten Kritikpunkt: Die Staatsanwaltschaft behauptet, die Bilanz der maroden Subholding SAirLines hätte spätestens Ende 2000 beim Richter deponiert werden müssen. Diese Darstellung wird von allen Angeklagten bestritten.

VR-Mitglied und Zementunternehmer Thomas Schmidheiny machte am 10. November 2005 folgende Aussage: «Solange ich mich zurückerinnere, ist die Überschuldung von SAirLines wie auch SAirGroup kein Thema gewesen. Wir sind auch mit den Analysen, die wir zwischenzeitlich gemacht haben, klar zum Schluss gekommen, dass Ende 2000 keine Überschuldung da gewesen ist.»

Wie erklärt sich denn Schmidheiny den Verlust bei SAirLines, den der Verwaltungsrat für das Geschäftsjahr 2000 auf über zwei Milliarden Franken beziffert habe? Davon betraf eine Milliarde allein die kumulierten Verluste in den Bilanzen von Dritt-Airlines, an denen die Schweizer eine Minderheitsbeteiligung hatten. Schmidheiny verwies auf eine VR-Sitzung von Ende 2000. «Im November hat der Finanzchef 157 Millionen Franken als Gewinn prognostiziert, also kann man nicht ohne ein Ändern der Spielregeln eine Milliarde Verlust einfliegen.»

Dann erklärte der Unternehmer, dass der VR im darauf folgenden Frühling 2001 die Strategie geändert habe. Statt Wachstum durch Zukäufe ausländischer Airlines stand ab jenem Zeitpunkt die rasche Rückkehr zu den Wurzeln an, mit der die Kernmarken Swissair und Crossair gestärkt werden sollten. Eine solche Strategieänderung bedinge, führte Schmidheiny weiter aus, dass alle davon betroffenen Elemente neu bewertet würden. «Dahinein gehören auch Verpflichtungen in die Zukunft, die begründet worden sind durch in der Vergangenheit abgeschlossene Verträge.»

Klingt komplizierter, als es ist. Bis zur Entlassung von CEO Philippe Bruggisser am 20. Januar 2001 hatte dessen Hunterstrategie Gültigkeit, die erst einige Wochen später von Mario Corti und dem VR begraben wurde. Solange das Ziel der SAirGroup lautete, eine der führenden Airline-Gruppen Europas zu werden, fielen auch keine milliardenhohen Ausstiegskosten aus einer abgebrochenen Strategie an. Dies geschah erst, als die Verantwortlichen das Steuer um 180 Grad herumrissen. Mit Beschluss 6/01 sorgten sie dafür, dass die SAirLines buchhalterisch wieder stabil dastand, und verabschiedeten ein Sanierungskonzept, das unter anderem den Verkauf rentabler Tochtergesellschaften vorsah.

Die zweite Behauptung der Staatsanwaltschaft, wonach der «Push-down»-Entscheid – die Verschiebung der Tochtergesellschaften in die SAirLines – Gläubiger benachteiligte, ist leicht zu entkräften. Zugriff auf die Tochtergesellschaften hätten nun nicht mehr die Gläubiger der Muttergesellschaft SAirGroup gehabt, sondern jene der Subholding SAirLines, schreiben die Ankläger. Nur: Die Gläubiger beider Firmen waren weitgehend identisch, weil die SAirLines praktisch allein bei ihrer Muttergesellschaft Schulden hatte. So schrieb die «NZZ»: «Das beste Argument der Verteidigung dürfte sein, dass die SAirGroup mit 96,8 Prozent der ausstehenden Forderungen die Hauptgläubigerin der SAirLines war und daher ein eminentes Interesse am Wohlergehen ihrer zu 100 Prozent kontrollierten (sie besass alle Aktien, die Red.) Tochter hatte.» Hier liegt ein klassischer Fall von «linke Tasche, rechte Tasche» vor: Die werthaltigen Tochtergesellschaften wurden dem Zugriff der SAirGroup-Gläubiger nicht entzogen, sondern sie mussten dafür nur einen anderen Weg gehen.

Der dritte Kritikpunkt an der Anklageschrift wurde bisher kaum beachtet, ist aber möglicherweise von zentraler Bedeutung. Die Verteidiger der Swissair-Angeklagten behaupten nämlich, dass beim umstrittenen «Push-down»-Beschluss nicht nur wertvolle Tochtergesellschaften in die Subholding SAirLines transferiert wurden, sondern gleichzeitig die Verpflichtungen gegenüber den Verkäufern der «Schrott-Airlines» nach unten wanderten.

Diese Ansicht passt zu einer Aussage von Ex-CEO Philippe Bruggisser während dessen Einvernahme vom 31. August 2005. «Die Verpflichtungen gegenüber den Partnern (Mehrheitsbesitzer der Dritt-Airlines, die Red.) wurden meistens von der SAirGroup eingegangen», gab der langjährige SAir-CEO zu Protokoll, der das profundeste Wissen über die Aviatikgruppe hatte. Bruggisser sagte, dass selbst wenn man die Subholding SAirLines als schwarzes Loch betrachte, die Gläubiger der Muttergesellschaft nicht schlechtergestellt worden seien. Denn diese verloren mit dem VR-Beschluss nicht nur den direkten Zugang zu den wertvollen Assets, sondern wurden gleichzeitig formell bessergestellt, indem sie nicht mehr direkt für die Löcher bei den Airline-Beteiligungen geradestehen mussten.

Bruggissers Einvernahmen wurden oft zum Nachhilfeunterricht für die Staatsanwälte. Trotzdem: Nicht alle Vorwürfe der Ankläger sind an den Haaren herbeigezogen. So haben Webers Leute in den Einvernahmen herausschälen können, dass Cortis berühmter Milliardenkredit gar nie hätte bezogen werden können. Eine der Bedingungen der drei Kreditgeber CS, Deutsche Bank und Citibank lautete nämlich, dass während der einjährigen Laufzeit des Milliardenkredits keine anderen Blankokredite (solche ohne Sicherheit) zurückbezahlt wurden. Das konnte die Swissair nicht verhindern, und sie musste in den Wochen vor dem Grounding diversen Drittbanken Gelder in Höhe von Hunderten von Millionen zurückzahlen.

Auch Zahlungen in zweistelliger Millionenhöhe an Berater aus England, die Mario Corti und seine Finanzchefin Jacqualyn Fouse zu verantworten haben, bieten gute Chancen für die Staatsanwaltschaft, mit ihrer Klage erfolgreich zu sein. Nur geschahen diese Handlungen in den Wirren der letzten Tage, unter extrem erschwerten Bedingungen also. Das könnte das Gericht mildernd berücksichtigen.

Insgesamt erscheinen diese Fälle wie Peanuts im Vergleich zur Schrotladung, welche die Staatsanwaltschaft auf die Angeklagten abgeschossen hat. Am Gericht ist es nun, die Relationen zurechtzurücken. Vor dieser Aufgabe hat sich die Staatsanwaltschaft gedrückt.


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