«Ohne die Amerikaner geht nichts»

Für ein Interview mit Präsident Bush würde er nicht unbedingt Schlange stehen, sagt John Micklethwait. Der Chefredaktor des englischen «Economist» über den US-Feldzug im Irak und den Einfluss seines Magazins auf das Weltgeschehen.

BILANZ: Herr Micklethwait, in Ihrem Büro hängt als einziger Wandschmuck eine Radierung eines älteren Herrn. Wer ist das?

John Micklethwait: James Wilson. Er gründete 1843 den «Economist».

Wollte schon Wilson eine liberale Zeitschrift publizieren?

__ Wilson war in zweifacher Hinsicht ein Liberaler: in ökonomischer ­ er war beispielsweise gegen hohe Steuern ­ und in der Gesellschaftspolitik, da opponierte er gegen das Sklaventum. Dem sind wir treu geblieben. Wir glauben an die Kraft einer frei operierenden Wirtschaft, gleichzeitig befürworten wir die individuelle Freiheit. Deshalb sind wir gegen das US-Gefangenenlager in Guantánamo und für die Ehe von schwulen Paaren.

In Wirtschaftsfragen steht der «Economist» rechts, in gesellschaftlichen links?

__ Eine eigenartige Philosophie, ich weiss. Übers Ganze gesehen aber eine sehr erfolgreiche. In den letzten 25 Jahren wurde die Welt liberaler. Trotzdem sehe ich keine politische Partei, die sich den Trend auf die Fahne schreibt. Nicht die liberale Partei in England, nicht die Demokraten in den USA, die in Wirtschaftsfragen selten liberal entscheiden. Höchstens die deutschen Freisinnigen.

Mit Ihrer liberalen Ausrichtung treffen Sie offenbar den Geschmack des Publikums. Wie erklären Sie sich Ihren anhaltenden Erfolg?

__ Unsere Leser wollen wissen, wie wir aus unserem liberalen Blickwinkel die Welt betrachten. Vielleicht wollen sie durch unsere Meinungen herausgefordert werden. Nehmen Sie unsere Titelgeschichte über Nicolas Sarkozy als «Frankreichs Chance». Der neue französische Präsident hat zwar teilweise unliberale Spuren hinterlassen ­ in der Immigrationspolitik und sogar bei Wirtschaftsthemen. Insgesamt aber steht er der Ausrichtung, die wir für richtig halten, näher als seine Konkurrenten.

Waren Sie es als Chefredaktor, der Sarkozy zur «Economist»-Wahlempfehlung bestimmte?

__ Bei jeder wichtigen politischen Wahl besteht die Gefahr, dass man sagt: «Ach, die sind doch alle so grauenhaft, da können wir sowieso nichts ausrichten.» Unsere Leser haben aber ein Anrecht darauf zu erfahren, wem sie unserer Meinung nach ihre Stimme geben sollen. Wir sind seit langem für die Schwulenehe. Wenn darüber abgestimmt wird, sollten wir dazu stehen und dies sagen. Auch wenn keine Politik perfekt ist, müssen wir uns für eine entscheiden. Das passt zu uns. Wir haben zwar eine starke Ideologie, aber wir sind auch Pragmatiker und machen ein liberales Magazin, kein libertäres.

Was wäre libertär?

__ Wenn wir jegliche Staatsintervention aus Prinzip ablehnten. Wir sind aber für das öffentliche Gesundheitswesen, weil wir glauben, dass es in diesem Bereich Platz hat für den Staat.

Werden Entscheide wie jener für oder gegen Sarkozy auf der Redaktion diskutiert?

__ Und wie. Früher waren wir für Bill Clinton, dann zuerst für George Bush, beim zweiten Mal für John Kerry, in England für Margaret Thatcher, John Major und zweimal für Tony Blair. Unsere Empfehlungen kommen nicht immer aus prinzipiellen Überlegungen zustande. Ich dachte lange, dass Ségolène Royal eine attraktive Option sein könnte. Bei Sarkozy waren wir nervös wegen seiner Immigrationspolitik, und dass er die Türkei für immer von der EU fernhalten will, finden wir ebenfalls falsch. Als Royal ihren 100-Punkte-Plan veröffentlichte, kamen wir zum Schluss, dass sie Frankreich nicht verändern will.

Die Wahlempfehlungen des «Economist» weisen eine durchzogene Bilanz aus. Mit John Kerry setzten Sie 2004 auf den unterlegenen US-Präsidentschaftskandidaten.

__ Ich muss aufpassen, was ich sage, weil ich meinen Vorgänger nicht kritisieren will, so wie auch er mich verschont. Aber: Man fällt manchmal Entscheide, mit denen man im Nachhinein nicht glücklich ist. Persönlich war ich bei ein paar Wahlempfehlungen anderer Meinung. Und ich weiss, dass einige meinen Sarkozy-Entscheid falsch finden und denken, Mitte-Mann François Bayrou entspreche mehr der «Economist»-Linie. Das ist gut so. Allein hier in unserer Londoner Stammredaktion kämpfen sechzig erfahrene Journalisten für ihre Meinung.

Vor vier Jahren unterstützte der «Economist» den Irak-Feldzug, auch Sie selbst waren dafür. Heute schreiben Sie vom irakischen Debakel. Bereuen Sie Ihre einstige Einstellung?

__ In Europa war es schwierig, für den Krieg zu sein. In den USA war die Situation um 180 Grad anders. Fast alle waren dafür, selbst die liberale «New York Times». Nun müssen alle ihren eigenen Weg finden. 2003 schrieben wir, es sei unvorstellbar, dass der Irak unter amerikanischer Führung schlimmer dastehen würde als unter Saddam Husseins Regime. Kürzlich gaben wir zu, dass unser Vorstellungsvermögen versagt hat.

Warum dachten Sie damals, dass der Irak-Krieg der USA richtig sei?

__ Entscheidend waren die Fakten. Praktisch alle Geheimdienstleute, die ich damals traf, waren sicher, dass Saddam die Atombombe baut. Und nicht einmal in unseren schlimmsten Albträumen konnten wir uns vorstellen, dass die Amerikaner derart inkompetent sein könnten. Allein das Ausmass des ideologisch genährten, amateurhaften Unpragmatismus eines Donald Rumsfeld (damaliger US-Verteidigungsminister, die Red.) ist ein starkes Stück. Wie kann er ein Land erobern und dann nicht genügend Truppen zur Verfügung stellen, um es zu führen?

Das war im Voraus unmöglich absehbar?

__ Das behaupte ich nicht. Es gab zahlreiche Beobachter ­ auch beim «Economist» ­, die just dies prophezeiten. Aber ich vermute, dass nicht einmal diese Skeptiker das Ausmass des späteren Debakels erahnten. Schliesslich sprach man von «Nation Building», vom Schaffen neuer Nationen.

Wie gross ist der Schaden für den «Economist»?

__ Ich bin sicher, dass einige Leser ihr Abonnement gekündigt haben. Wie viele wir im anderen Fall verloren hätten, wissen wir nicht. Wenn man einmal anfängt sich zu überlegen, was die eigenen Leser am liebsten läsen, sitzt man in der Patsche. Unsere kritische Titelgeschichte über das sogenannte ethische Einkaufen war für viele Leute ein Schlag in die Magengrube. Auch die meisten «Economist»-Journalisten kaufen biologische Produkte und trinken Kaffee von Fair-Trade-Organisationen. Wir alle dachten, dies sei gut für die Welt. Dann ging einer von uns hin und kam zum gegenteiligen Schluss. Wir schätzen unsere Leser, dürfen uns von ihnen aber nicht den Kurs vorgeben lassen.

Sie wuchsen in England auf, danach waren Sie lange Zeit Amerika-Korrespondent für den «Economist». Gelangen deshalb immer mehr US-Themen auf die Titelseite?

__ An der Gewichtung hat sich nichts geändert. Und der Inhalt des «Economist» ist auf der ganzen Welt derselbe, lediglich die Titelseiten und die Reihenfolge variieren je nach Region.

Die Coverstorys dieses Jahres erwecken einen anderen Eindruck. Zuerst kommt Amerika, dann England, danach Asien und die Globalisierung und erst zuletzt Europa.

__ Sie täuschen sich. Wir setzten Europas Midlife-Krise in allen Weltregionen auf den Titel, ebenso wie jetzt die Sarkozy-Geschichte. Wir tun dies, obwohl wir wissen, dass sich europäische Storys in den USA oft schlecht verkaufen. Zutreffend ist, dass wir seit dem 11. September 2001 viele amerikanische Titelgeschichten hatten. Aber das hat damit zu tun, dass Amerika zwar erniedrigt wurde, aber trotzdem die einzige Supermacht geblieben ist. Diese hat sich lediglich in eine Art negative Macht verwandelt. Die USA mögen in wirtschaftlichen Ranglisten zurückfallen, doch auf der weltpolitischen Bühne passiert nach wie vor nichts ohne sie. Nordkorea und die Atombombe, der Israel-Palästina-Konflikt, der Friedensprozess im Mittleren Osten, der Irak, Lateinamerika ­ – ohne die Amerikaner geht nichts.

Was wollen Sie als Chefredaktor des «Economist» verändern?

__ Ich habe ein neues internationales Ressort und eine Finanzkolumne eingeführt, und im Web sind wir dank täglichen Berichten aktueller geworden.

Die Änderungen im Internet sind nicht viel mehr als technische Neuerungen, um die Artikel über einen zusätzlichen Kanal zu vertreiben.

__ Da steckt mehr dahinter. Wenn Sie schauen, wie wir alle durch das Internet herausgefordert sind, sprechen wir von wichtigen Massnahmen. Richtig ist, dass sich unter meiner Führung an unserem ideologischen Standpunkt nicht viel verändern soll. Allerdings höre ich von aussen, dass wir bei Themen wie der Erderwärmung eine neue Optik eingenommen hätten.

Inwiefern?

__ Wir betrachteten die Klimaerwärmung schon länger als Gefahr, kritisierten jedoch die in Umlauf gesetzten ökonomischen Horrorszenarien. Die stammten von Leuten, die aus einer rein ideologischen Sichtweise heraus argumentierten. Heute anerkennen wir erstens, dass eine Veränderung im Gang ist. Zweitens, dass diese durch den Menschen verursacht ist. Drittens, dass zwar niemand die Folgen kennt, dass aber die wahrscheinlichen Auswirkungen nicht günstig erscheinen. Erschwert wird das Problem dadurch, dass man jetzt Geld investieren muss, um eine andere Zukunft zu ermöglichen. Aber wir unterstützen dies, was ebenfalls zeigt, dass wir keine Libertäre sind. Es ist wie mit Ihrer Armee: Sie investieren in sie, obwohl Sie sie noch nie gebraucht haben.

Trifft es zu, dass der «Economist» seit Ihrem Antritt als Chefredaktor politische Themen stärker gewichtet als wirtschaftliche ­ trotz dem Namen der Zeitschrift?

__ Wirtschaft und Finanz sind immer noch unser Herzstück, zusammen mit der Weltpolitik. Wir sind heute das weltgrösste Wirtschaftsmagazin, verkaufen mehr Exemplare als sonst jemand. Jede Woche berichten wir auf 20 bis 30 Seiten über Wirtschaft, Finanz und Wissenschaft. Ich investierte in eine Finanzkolumne, weil ich uns dort verstärken wollte. Zutreffend ist, dass wir in den letzten fünf Jahren viele politische Neuerungen einführten. Das hat mit der Grosswetterlage zu tun. In den neunziger Jahren schrieben wir uns die Finger wund über Technologieschübe und über Firmen, die sich weltweit ausrichten mussten, während die Politik immer unwichtiger schien. Nun kommt plötzlich die Welt zu uns nach Hause. Zum Teil aus ökonomischen Gründen, zum Teil wegen des Bedeutungszuwachses von Indien und China, der uns alle im Westen betrifft.

Sind die Politiker in Europa und den USA so nervös, weil die Globalisierung nach der ökonomischen jetzt eine politische Dimension erhalten hat?

__ Für mich sind es zwei Seiten der gleichen Medaille. Wenn ich ein Angestellter einer Pharmafirma in Basel bin, betrifft mich die aufkommende Konkurrenz durch Indien ebenso wie das Verhältnis zwischen China und Japan. Was irgendwo auf unserer Welt passiert, hat einen direkten Einfluss auf das Leben aller Menschen. Viele Geschäftsleute dachten in den Neunzigern, dass sich das globale Geschäften immer stärker entwickeln und zu einem Selbstläufer werden wird. Bis ein Verrückter aus einer Höhle in Afghanistan alles durcheinanderbrachte. Bin Laden konnte mit ein paar Leuten die ganze Welt, wie wir sie zuvor gekannt hatten, verändern. Das ist zu einem riesigen Problem für uns geworden.

Die wöchentliche Auflage des «Economist» ist auf 1,2 Millionen Exemplare hochgeschnellt. Wer kann Ihnen noch folgen?

__ Wenn Sie über amerikanische Wirtschaft lesen wollen, gibt es «Forbes», «Fortune» oder «Business Week», bei den Nachrichtenmagazinen «Time» und «Newsweek», in Deutschland den «Spiegel», in Asien die «Far Eastern Economic Review». Und natürlich die Sonntagszeitungen wie jene der «New York Times». Hauptkonkurrent ist jedoch ­ das klingt jetzt wie ein Klischee, trifft aber zu ­ der Faktor Zeit. Was mache ich mit der mir zur Verfügung stehenden Zeit? Lese ich den «Economist»? Oder schaue ich TV, surfe durchs Internet, schaue andere Magazine an oder gehe mit den Kindern spazieren?

Sind die «Economist»-Artikel deshalb oft kurz?

__ Wir haben eine Mischung aus Analysen, die aufzeigen, was in der Welt passiert, und aus kurzen, pointierten Stücken. Kürzlich berichteten wir über afghanische Stämme, von denen kaum jemand gehört hat. Das Thema war uns zwei Seiten wert. Ein Artikel über die Abhängigkeit Europas vom russischen Gas war gar drei Seiten lang. Aber es ist schon so, dass wir die Dinge instinktiv kürzen. Deshalb lassen wir auch Zitate wenn immer möglich weg.

Auf Interviews verzichten Sie ganz. Das tut sonst fast keine Publikation.

__ Früher publizierten wir Buch- und Kunstbesprechungen in Gesprächsform. Doch es überzeugte uns nicht. Unsere Leser erwarten von uns, dass wir für sie die Informationen filtern und reduzieren. Wenn wir ein Interview mit George Bush machen könnten und er nur drei interessante Dinge sagt: warum dann den ganzen Rest abdrucken?

Die meisten anderen Zeitungen stehen für ein Bush-Interview Schlange und breiten es über mehrere Seiten aus, um der Leserschaft zu zeigen: Hey, wir sprachen mit Bush.

__ Das würden wir nicht tun. Es sei denn, Bush würde mit dramatisch neuen Erkenntnissen aufwarten. Die goldene Regel jedes Zitats lautet doch: Entweder ist der Sänger wichtig oder das Lied. Es gibt nichts Langweiligeres als ein Zitat wie «Im Irak läuft es schlecht» von einem stellvertretenden Sergeant namens Gene W. Smith. Das ist reine Zeitverschwendung. Warum nicht einfach sagen, dass es schlecht läuft, und dann den stellvertretenden Sergeant auftreten lassen, falls er mitteilen kann, wie viele Strassenbomben in seinem Operationsgebiet kürzlich hochgegangen sind? Wenn allerdings Bush aufsteht und sagt, der Irak befinde sich in einem sehr schlechten Zustand, dann haben wir einen genügend wichtigen Sänger. Sagt er dann allerdings noch, dass Amerika ein grossartiges Land sei und die Wirtschaft gut laufe, kann man auf die Publikation dieser zusätzlichen Aussagen getrost verzichten.

Ihr Vorgänger Bill Emmott blieb 13 Jahre lang «Economist»-Chefredaktor und verdoppelte die Auflage. Wie wollen Sie das gleiche Kunststück vollbringen?

__ Die Zwei-Millionen-Hürde ist ein vernünftiges Ziel. Es gibt weltweit immer mehr Menschen, die unsere Art von seriöser Analyse wollen, die provoziert und ärgert, unterhält, irritiert und informiert. Ihnen bietet der «Economist» eine interessante, clevere, englischsprachige Betrachtung der Welt aus einer globalen Perspektive heraus.

Sie sind 44 und üben die Aufgabe seit einem Jahr aus. Wie fühlen Sie sich?

__ Der Job ist stressig, aber vor allem macht er mir Spass. Ich empfinde es als eine grosse Herausforderung, die Dinge bei uns in der richtigen Richtung am Laufen zu halten.

Muss man dafür aussergewöhnlich selbstsicher sein?

__ Selbstsicher und bescheiden. Ich muss über Personal, Organisation und Internetstrategie entscheiden. Andererseits verfügt der «Economist» über eine Bandbreite an talentierten Leuten, die schlicht fantastisch ist. Letzte Woche besuchte ich unseren Korrespondenten in Kairo, der seit Jahrzehnten über die arabische Welt schreibt. Ihm Vorträge über seine Region zu halten, wäre verrückt. Ich muss nur dafür sorgen, dass sein Potenzial zum Tragen kommt.


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