Schnee von morgen

Auch der neue Serono-Chef ist ein Schweizer: Beim Thurgauer Elmar Schnee, Pharmachef von Merck und Architekt der Übernahme, wird in Zukunft die Verantwortung für das Genfer Biotech-Unternehmen liegen.

Dienstag, Chemin des Mines im Genfer Stadtteil Sécheron, 9 Uhr morgens: Merck-Pharmachef Elmar Schnee packt seine neue Aufgabe am Serono-Hauptsitz an. Wenige Kilometer vom Genfer Hauptbahnhof entfernt, seeaufwärts Richtung Lausanne, präsentiert sich der drahtige Manager an diesem grau verhangenen Vormittag den Angestellten von Serono. Über deren Schicksal entscheidet in Zukunft nicht mehr Sonnyboy und Segler Ernesto Bertarelli, sondern ein bis dato unbekannter Manager aus Darmstadt. Bei Schnee paart sich der Körper eines 1,90 Meter grossen Asketen mit der Ausstrahlung eines Bonvivants: Beim Reden lacht sein Gesicht, und um die Augen breiten sich Fältchen aus. So versucht er, Skeptiker im Genfer Serono-Sitz von den Vorzügen eines Deals zu überzeugen, dessen geistiger Vater niemand anders ist als er selbst.

Mit der Integration von Serono in den deutschen Merck-Konzern wird der 47-Jährige, der in Hagenwil in der thurgauischen Provinz als Sohn eines Käsers und Schweinezüchters aufwuchs, in den kommenden Wochen und Monaten seine bisher grösste Bewährungsprobe als Topmanager zu bestehen haben. 2003 stiess der Schweizer nach langen Jahren in verschiedenen Ländern und Pharmafirmen zu den Deutschen. Als sich die Familie Merck, die auch in der zwölften Generation noch 73 Prozent des Unternehmens kontrolliert, zwei Jahre später von ihrem CEO trennte, rückt Schnee zum globalen Chef Pharma mit einer Umsatzverantwortung von fast vier Milliarden Euro auf. Sein Auftrag von der Familie lautete: eine Strategie auszuarbeiten, mit der Merck im Pharmageschäft den Rückstand auf die Grossen der Branche verkleinern kann.

Der Thurgauer mit dem typischen breiten Dialekt liess sich nicht zweimal bitten. «Ich kam zum Schluss, dass man eine gewisse Grösse für den Erfolg im globalen Pharmamarkt braucht – wegen den steigenden Forschungsausgaben und wegen dem finanziellen Risiko, wenn man nur ein paar wenige Umsatzrenner besitzt.» Die Lösung des Dilemmas hiess: zukaufen.

Dass aber dann Serono für elf Milliarden Euro im Merck-Einkaufskorb enden würde, kam doch überraschend. Zwar hatte Serono-Mehrheitsaktionär Bertarelli zu Jahresbeginn seine Verkaufsabsichten kundgetan. Weil niemand den geforderten Preis zahlen wollte, schien er den Plan im April ad acta gelegt zu haben. Und auf Elmar Schnees Einkaufsliste stand eine andere Pharmafirma, Schering aus Berlin. Erst als sich deren Manager in die Hände von Branchenprimus Bayer flüchteten, tauchte Serono auf Schnees Radarschirm auf.

Gekauft wird bei Merck also das, was gerade auf dem Markt zu haben ist? Der in einen eleganten dunkelblauen Anzug mit bordeauxroter Krawatte und gleichfarbigem Brusttuch gekleidete Merck-Manager spricht vom «glücklichen Timing», dem Wichtigsten im Leben. «Bevor wir über den Deal zu diskutieren begannen, habe ich mit Herrn Bertarelli kein einziges Mal gesprochen.» Ob Schnee den Schritt auf Bertarelli zumachte, oder ob der Serono-Besitzer bei den Deutschen anklopfte, bleibt das Geheimnis der Beteiligten. Serono-VR-Präsident Georges Muller sagt nur: «In den Verhandlungen hat Schnee einen exzellenten Eindruck auf mich gemacht.»

Mit der Übernahme vergrössert sich der Bereichsumsatz von Merck-Pharmachef Schnee um fast 50 Prozent, von knapp vier auf fast sechs Milliarden Euro. Auf je eine Milliarde Euro belaufen sich der um den Serono-Anteil erhöhte Gewinn und die Investitionen in Forschung und Entwicklung. Und die Zahl der Mitarbeiter schnellt auf 15 000 hoch. Damit lässt Schnee seinen für das zweite Merck-Standbein zuständigen Kollegen, den Chef der Chemiesparte, weit hinter sich. Der zeichnet für nur knapp zwei Milliarden Euro Umsatz verantwortlich. Elmar Schnees Taten werden also massgeblich über Erfolg oder Misserfolg der Vorwärtsstrategie des deutschen Multis entscheiden.

Doppeltes Glück auf der Insel

Dabei hat der Thurgauer weder studiert noch sonst eine höhere Ausbildung absolviert. Sein schulisches Curriculum ist von Minimalismus geprägt. Von der Sekundar- gings schnurstracks in die Handelsschule, wo der junge Schnee seine Mühe mit den Sprachen hatte. «Mein Englisch und mein Französisch waren schwach, vielleicht war auch das ein Grund, warum ich später unbedingt ins Ausland wollte.» Kaum hatte er sein Diplom in der Tasche, heuerte er beim Schweizer Ableger einer englischen Pharmafirma an. Nach drei Jahren wechselte er auf eigenen Wunsch in die Zentrale auf die Insel, wo er gleich zweimal das grosse Los zog. Erstens lernte er seine spätere Frau kennen, zweitens arbeitete Schnee mit Beratern einer US-Consultingfirma, die ihn später nach Nordamerika lotsten.

«Amerika», sagt Schnee, «ist einfach wichtig fürs globale Geschäft, das war mir schon damals klar.» Es dauerte nicht lange, bis er wieder auf dem europäischen Kontinent landete. 1997 rief ihn der französische Pharmakonzern Sanofi nach Paris, wo er ein vielversprechendes Produkt lancieren sollte und später mithalf, die Fusion mit Synthélabo zu meistern. Wieder zwei Jahre später folgte die nächste Station. Die belgische Chemie- und Pharmafirma UCB übertrug Schnee die Position des Marketingchefs – erneut ein Schritt nach oben, weil Schnee erstmals die weltweite Verantwortung für einen Bereich trug.

Bei all diesen Job-Offerten ist es einigermassen erstaunlich, dass sich die Schweizer Pharmariesen Novartis und Roche nie um Schnee bemüht haben. Ihn selbst hätte ein Einsatz in Basel gereizt, auch wenn er sich bei einer kleineren Firma wohler fühle, da man dort «schneller eine Gesamtverantwortung übernehmen und damit einen anderen Eindruck aufs Ganze hinterlassen» könne.

Ob Schnee für seine Arbeitgeberin Merck ein Glücksfall ist, wird sich in drei Jahren zeigen. Bis dann muss seine Pharmasparte deutlich höhere Renditen erzielen als die bisherigen 10 Prozent. Ziel seien knapp 20 Prozent, sagt Schnee, darauf hätte die Familie als Entschädigung für die Risiken, die in diesem Geschäft schlummern, ein Anrecht. Erreicht Schnee die ambitiösen Ziele, stünde dem Sprung an die Spitze eines Pharmamultis wohl nichts mehr im Wege.

Derweil freilich hängt sein Schicksal allein vom engsten Kreis der Familie Merck ab. Schnees Vorgänger Bernhard Scheuble hatte sich als CEO durch gute Leistungen einen Namen gemacht, wollte sich aber nicht von den Mercks gängeln lassen. Als Folge musste er im November 2005 über Nacht das Haus verlassen. Dennoch, sagt Merck-Pressesprecher Walter Huber, sei die Familie in den 338 Jahren der Firmen-existenz immer fähig gewesen, Vertrauen zu schaffen. «Vertrauen zwischen den verschiedenen Familienästen, damit sich keiner vom anderen hintergangen fühlt. Und Vertrauen ins Management, das ja aus familienfremden Köpfen besteht.»

Auch Elmar Schnee, dem Mann, der aus dem Thurgau aufbrach, um die Pharmawelt zu erobern, soll die Familie vertrauen können. Sein Führungsstil und seine Fähigkeit, Spezialisten um sich zu scharen und dann den besseren Argumenten zum Durchbruch zu verhelfen, dürften ihn vor allzu eigensinnigem Gebaren bewahren, das bei Merck nicht goutiert wird. «Meine grösste Stärke ist vielleicht», sagt Schnee, «dass ich weiss, dass ich nicht alles weiss.» Mitarbeit: Stefan Riedel

Novartis-VR half mit beim Deal

Ernesto Bertarelli liess sich für den Serono-Verkauf von der Zürcher Anwaltskanzlei Lenz & Staehelin beraten. Mandatsleiter war Andreas von Planta, der dabei eine pikante Doppelrolle spielte: Von Planta ist auch Verwaltungsrat von Merck-Konkurrent Novartis. Novartis prüfte Presseberichten zufolge bereits im Februar den Kauf von Serono.


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