Im Zweifel für den Sachverstand

Erstmals legen zwei Anwälte der Angeklagten ihre Verteidigungsstrategie offen. Erweisen sich die Richter als kompetent, sind die Chancen für einen Freispruch intakt. Der Swissair-Strafprozess, das ist heute schon klar, setzt neue Massstäbe.

19 ehemals führende Wirtschaftspersönlichkeiten werden in einigen Monaten in Bülach ZH vor dem Richter stehen. In dem spektakulären Verfahren um Abgangsentschädigungen beim deutschen Telecom-Konzern Mannesmann waren nur sechs Manager angeklagt. Im epochalen Konkursfall von Enron sind es sogar lediglich die zwei einstigen obersten Chefs, die sich in diesen Wochen in den USA wegen persönlicher Bereicherung zu verantworten haben.

Trotz der überraschend hohen Zahl der Angeklagten gehen die Verteidiger davon aus, dass das Resultat für die Staatsanwaltschaft mager ausfallen dürfte. Im Gespräch mit der Weltwoche skizzierten zwei der Staranwälte, die sich nicht namentlich zitieren lassen wollen, erstmals ihre Verteidigungslinie. Es handle sich um einen politischen Schauprozess, sagen sie, bei dem die Behörden nur deshalb zum Rundumschlag ausgeholt hätten, weil sie dem öffentlichen Ruf nach einer Abrechnung mit den gescheiterten Wirtschaftsführern genügen wollten. Entscheide das Gericht mit Augenmass und Sachverstand, werde es Freisprüche statt Urteile hageln, sagen sie mit professionellem Optimismus.

Die Verteidiger konzentrieren sich auf den zentralen Teil der Klage von Staatsanwalt Christian Weber. Dabei geht es um einen Beschluss des Verwaltungsrats der SAirGroup vom 24. März 2001, der das Kennzeichen 06/01 trägt. Diesen Beschluss hält Weber den neun damals verantwortlichen Verwaltungsräten des Airline-Konzerns am stärksten vor. Neben dem einstigen Swissair-Präsidenten Mario Corti befinden sind auch so illustre Personen wie die frühere Zürcher FDP-Ständerätin Vreni Spoerry, Ex-Credit-Suisse-Chef Lukas Mühlemann oder Zementunternehmer und Milliardär Thomas Schmidheiny darunter.

Beim Antrag 06/01 geht es um die buchhalterische Neustrukturierung des Konzerns. Das Airline-Geschäft war in der Subholding SAirLines zusammengefasst und hierarchisch der Muttergesellschaft SAirGroup unterstellt. Zur SAirLines gehörten somit nicht nur die beiden inländischen Airlinetöchter Swissair und Crossair, sondern auch alle Beteiligungen an den in den neunziger Jahren erworbenen Gesellschaften wie die belgische Sabena, die deutsche LTU oder die französische AOM. Die meisten dieser ausländischen Airlines hatten seit dem Kauf durch die SAirGroup stark an Wert verloren. Das liess die Kapitaldecke der SAirLines bis zum Frühling 2001 rapide schrumpfen.

Staatsanwalt Weber kritisiert, dass die Subholding SAirLines zum Zeitpunkt des Verwaltungsratsbeschlusses vom 24. März bereits in einem hoffnungslosen Zustand war: Die SAirLines sei überschuldet gewesen und hätte nicht mehr länger ohne echte Sanierungsmassnahmen betrieben werden dürfen, klagte er letzte Woche an. Ob er damit meinte, die Verantwortlichen hätten schon im Frühling 2001 die Bilanz der SAirLines deponieren und ein Grounding in Kauf nehmen müssen, liess der Staatsanwalt an seiner Medienkonferenz offen. Diese Frage sei nicht Teil seiner Aufgabe gewesen, sagte er. Er habe lediglich zu beurteilen, ob geltendes Recht verletzt worden sei. Zum Beispiel: Wenn ein Unternehmen seinen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen könne, müsse es entweder seine Aktivitäten stilllegen oder durch wirkungsvolle Massnahmen versuchen, aus der Gefahrenzone zu gelangen. Dass solch rigoroses Handeln bei der SAirLines schon lange nötig gewesen wäre, hätten auch die Verwaltungsräte gewusst, sagt Staatsanwalt Weber. Nur hätten sie die Hände in den Schoss gelegt.

«Geschenk» mit Auflagen

Statt gesunde Töchter zu verkaufen und so das Airlinegeschäft auf Vordermann zu bringen, hätten die Angeklagten eine Sanierung auf Papier vollzogen, die ohne Auswirkungen auf die Finanzlage gewesen sei. Und zwar, indem sie gesunde Tochterfirmen (dazu zählten die Flugzeugwartungs-Gesellschaft SR Technics, die Flugverpflegungsfirma Gate Gourmet und die Swissport, die sich um die Passagieraktivitäten am Boden kümmerte) in die Subholding SAirLines transferierten. Weil die Empfängerin, also die SAirLines, nichts für die erhaltenen Tochterfirmen bezahlt habe, handle es sich um ein Geschenk der Mutter SAirGroup, berappt von deren Gläubigern.

Kreuzfalsch, kontern die beiden Swissair-Anwälte die zentrale Argumentation der Staatsanwaltschaft. Sie bezeichnen den Verwaltungsratsbeschluss als «push down»-Entscheid, das Verlagern von Aktiven und Passiven auf eine untere Stufe eines Unternehmens. Die Wirtschaftsjuristen räumen «selbstverständlich» ein, dass wertvolle Tochterfirmen der SAirGroup in die Subholding SAirLines verschoben wurden. Bloss: dies sei eben nur die eine Hälfte des damaligen Beschlusses gewesen. Zur gleichen Zeit seien auch Rückstellungen in Milliardenhöhe aus der Bilanz des Mutterkonzerns gestrichen und als neue Verpflichtungen in die Bücher der Tochterholding überführt worden: «Für die SAirLines gab es eine süsse Medizin, das waren die gesunden Beteiligungen, und gleichzeitig eine bittere, nämlich die Rückstellungen für die maroden Airlines», resümiert einer der Anwälte den buchhalterischen Vorgang. Von einem Geschenk ohne Gegenleistung und zulasten der Geldgeber der Mutter SAirGroup könne «weiss Gott» keine Rede sein.

Ohne dieses Kernargument, so glauben die Swissair-Anwälte, breche die Anklage der Staatsanwaltschaft in sich zusammen. Dann nämlich habe es keine Gläubigerschädigung und auch keine ungetreue Geschäftsbesorgung gegeben. Entscheidenden Support erhoffen sich die Verteidiger vom einstigen Chef einer der weltweit grossen Beratungs- und Revisionsgesellschaften, der im Prozess als Experte auftreten wird. Dieser Buchhaltungs- und Beratungsspezialist hat für die Swissair-Verteidigung ein Gutachten über den umstrittenen «push down»-Beschluss und über weitere Entscheide der obersten Führung in jener Periode erstellt, das die Haltung der Verteidigung stützt. Auch die Staatsanwaltschaft liess einen Bericht über die damaligen Vorgänge in der Swissair-Chefetage anfertigen, um damit ihre Anklage zu untermauern. Das Gericht könnte nun ein drittes Gutachten bestellen, dürfte aber aus Zeitgründen darauf verzichten, weil sonst das Risiko einer Verjährung noch steigt.

Wie war es damals?

Die Swissair-Anwälte werden nach eigenen Worten versuchen, im Gerichtssaal den «Film» zurückzudrehen, um die damalige Zeit wieder aufleben zu lassen. Wie anders die Stimmungslage gewesen sei, führt einer der Juristen mit dem Beispiel des Sponsorings für die Landesausstellung Expo.02 vor Augen. Statt drei wollte die in Geldnöten steckende SAirGroup im Februar/ März 2001 nur noch eine Million Franken spenden und löste in der Folge einen Sturm der Entrüstung aus. Das veranschauliche, wie jeder Entscheid der Swissair zu heftigen Reaktionen in der öffentlichen Arena geführt habe. Ein normales Unternehmen war die Swissair definitiv nicht. Das machte eine Rettung schwierig.

Gelingt es den Verteidigern, die Zeit vom Januar 2001 mit ihren politischen und ökonomischen Sachzwängen neu aufleben zu lassen, könnten die Chancen auf Freisprüche steigen. Das setzt allerdings voraus, dass die Richter das nötige ökonomische und finanztechnische Rüstzeug mitbringen. Der Fall Swissair zeigt nämlich auch, dass wie in den Vereinigten Staaten auch hierzulande immer mehr Fragen, welche grosse Teile der Gesellschaft beschäftigen, in letzter Instanz von den Gerichten zu beurteilen sind. Ist das Land darauf vorbereitet? Während für viele der besten amerikanischen Juristen ein Richterposten das Karriereziel ist, setzen sich in der Schweiz eher die durchschnittlich Begabten auf die Richterstühle. Geld und Ansehen erwirbt man sich in der Schweiz nicht im Gerichtssaal, sondern in einer Wirtschaftskanzlei. Auch deshalb wird der Swissair-Prozess zu einem wichtigen Testlauf für die Schweiz.


Einen Kommentar schreiben