Ich bin ein alter Knacker

Junge Leute, flache Hierarchien und Opernarien: Fiat-Chef Sergio Marchionne sanierte das Unternehmen auf erprobte Weise. Einfach noch schneller als sonst. Doch bis zur Weltspitze bleibt ein weiter Weg.

Die Mitarbeiterin des St.-Galler Management-Symposiums schaut nervös auf die Uhr. Vor einer Stunde hätte der Stargast auftauchen sollen, bereits musste ein Redner vorgezogen werden. Dann endlich fährt eine schwarze Lancia-Limousine vor, und aus dem Fond steigt der lang Erwartete: Sergio Marchionne, 54, seit zwei Jahren an der Spitze des italienischen Autokonzerns Fiat. Die Würdenträger der Universität schütteln hocherfreut Marchionnes Hand und geleiten ihn Richtung Aula. Während Fiat-Mitarbeiter nervös hin und her spurten, schlendert der Boss nonchalant über den Platz.

Diese Lockerheit steht im Kontrast zu seinem Ruf als knallhartem Sanierer, den er sich in seinen Schweizer Zeiten bei Alusuisse, Lonza und SGS erarbeitete. Seither wird ihm jede Sanierung zugetraut – auch die vom italienischen Fiatkonzern, ein Unterfangen, das bei seinem Amtsantritt noch als Mission impossible galt. Jetzt zeigen sich die ersten Erfolge. Und Marchionne wird als Managerheld gefeiert. Nach seiner Rede bitten ihn die Besucher gar zum Erinnerungsfoto neben sich – wie einen Rockstar.

FACTS: Herr Marchionne, wie fühlt man sich als Manager-Superstar?

Marchionne: Ich bin kein Star.

Die Leute wollen sich mit Ihnen ablichten lassen wie …

… mit einem gut aussehenden Girl. Für den Erfolg von Fiat bin ich zu fast allem bereit. Nur als Frau werde ich mich nicht verkleiden.

Die Welt betrachtet Sie als Fiat-Retter.

Die Menschen sagen viel. Was ich tat, ist, ein paar gute Leute zusammenzusetzen und das Problem zu lösen.

Es heisst, Sie würden sich selbst an Angestellte erinnern, die Sie nur kurz getroffen hätten.

Natürlich, diese Leute sind die Zukunft von Fiat. Schauen Sie mich an, ich bin ein alter Knacker.

Das Kokettieren mit der Durchschnittlichkeit, dieses Das-eigene-Licht-unter-den-Scheffel-Stellen – das sind weitere Kontraste, die Spannung erzeugen. Denn tatsächlich ist der Kanadier mit italienischen Wurzeln auf dem besten Weg zum globalen Manager-Helden. Wenn es ihm gelingen sollte, Italiens Industrie-Ikone Fiat zurück an die Weltspitze der Automobilhersteller zu führen, ist ihm ein Platz im CEO-Olymp sicher – zwischen dem langjährigen General-Electric-Chef Jack Welsh und der schweizerisch-amerikanischen-Autolegende Bob Lutz.

Die Chancen dazu stehen gar nicht mehr so schlecht. Marchionnes grosser Vorteil ist, dass er bei seinem schwierigen Sanierungsjob auf die Erfahrung zurückgreifen kann, die er in zehn Jahren an der Spitze verschiedener Schweizer Unternehmen machte. Weil er das gleiche Programm schon mehrmals durchgespielt hat, weiss er genau, wo er den Hebel anzusetzen hat: zuerst die Konzernleitung durch ein breit aufgestelltes, junges Team ersetzen, dann die Hierarchiestufen halbieren und schliesslich eine Sieger-Mentalität etablieren. So ging er Mitte der Neunzigerjahre bei der Zürcher Industrie-firma Alusuisse ans Werk, 1999 bei der Basler Chemiefirma Lonza und 2002 bei der Genfer Warenprüferin SGS.

Zerschlagen wir die Bürokratie, lautet sein Schlachtruf. Bei Fiat kamen die überdimensionierten Abteilungen in der Zentrale als Erste dran. Früher wurden dort traditionellerweise die abgehalfterten Manager bei vollem Lohn parkiert. «Unter Marchionne sind die zentralen Stäbe nur noch zur Unterstützung der Business-Bereiche da», sagt Alessandro Baldi, ein Fiat-Finanzmann und damit selbst ein Stabs-manager, der seinem Chef von Zürich nach Turin folgte.

Nach seiner Wahl zum Fiat-Chef im Juni 2004 ging Marchionne exakt den von ihm in der Schweiz mehrfach erprobten Weg. Einfach noch schneller als sonst. Während er bei Alusuisse Jahre für den Umbau brauchte, hatte er bei Fiat schon nach drei Monaten junge Leute in die Autosparte eingeschleust. Sie brachten den wichtigsten Bereich der Gruppe mit über 40 Prozent des Konzernumsatzes auf Vordermann. Fünf Monate nach Marchionnes Stellenantritt rollten die ersten Köpfe: Zuerst jener des Leiters der Sportmarke Alfa, eine Woche später die der Fiat- und Lancia-Markenchefs. Am 30. November, genau ein halbes Jahr nach seinem Antritt als Fiat-CEO, erreichte Marchionne den ers-ten Meilenstein: Das Group Executive Council, die operative Führungsmannschaft des Konzerns, war einsatzbereit.

14 Manager sitzen dort, so viele wie sonst bei keinem Multi, und alle rapportieren direkt an Marchionne – eine Führungsspanne, die jedem Management-Lehrbuch widerspricht. Bei der Genfer SGS befehligte Marchionne sogar über 20 Direktunterstellte. Laut Heinz Bähni, der mit Marchionne von der Alusuisse-Lonza zur Genfer SGS wechselte, wo er heute Finanz-Kadermann ist, will Marchionne nicht alles selbst bestimmen. «Bei wichtigen Entscheiden, etwa Akquisitionen, haben wir immer abgestimmt.»

Ganz so kollegial geht es allerdings nicht immer zu und her. Bei der Alusuisse entschied der Chef oft allein, erinnert sich der damalige Verwaltungsratspräsident Hans Jucker. «Marchionne konnte einen seine Überlegenheit schon spüren lassen. Er ist im guten Sinne ein absoluter Diktator.»

Eine grosse Gruppe mit einsatzfreudigen Managern, die alle operativen Bereiche abdecken und die Entscheide rasch umsetzen können, und mitten unter ihnen der omnipotente Chef – so sieht Marchionnes bevorzugtes Führungsmodell aus. Angst davor, sich zu übernehmen, kennt er offensichtlich nicht. Sonst hätte der Fiat-Boss nicht auch noch den wichtigsten Job im ganzen Turiner Unternehmen an sich gerissen. Im Februar 2005, acht Monate nach seiner Wahl, schickte er den Chef von Fiat Auto, der erst knapp ein Jahr bei den Italienern war und zuvor jahrelang für Volkswagen arbeitete, in die Wüste. Herbert Demel, ein erfahrener Automanager, war dem ungeduldigen Sanierer zu langsam beim Umbau des umsatzstärksten Konzernstandbeins.

Fiats Besitzerfamilie Agnelli kann mit ihrem neuen CEO zufrieden sein, den sie bei SGS, wo sie ebenfalls Grossaktionärin ist, kennen und schätzen gelernt hatte. Unter Marchionne verwandelte Fiat im letzten Geschäftsjahr einen Verlust von 1,6 Milliarden Euro in einen Gewinn von 1,3 Milliarden. Sonderfaktoren wie die Auflösung eines Fusionsvertrags mit dem US-Autoriesen GM, der anderthalb Milliarden Euro in die Kassen von Fiat spülte, waren für diesen Sprung wichtig.

Doch noch wichtiger für den eindrücklichen Turnaround war, dass es Marchionne gelang, das Steuer in der Auto- sparte herumzureissen. Im Schlussquartal 2005 wiesen die Marken Fiat, Alfa und Lancia erstmals seit Jahren ein kleines Plus aus, und das laufende Jahr begannen sie mit einem Gewinn von 57 Millionen Euro ansprechend.

Auf seinen ersten Coup, die Auswechslung der Konzernleitung durch eine junge Managertruppe, folgt jeweils ein zweiter: die Halbierung der Hierarchiestufen. Bei SGS in Genf und jetzt wieder bei Fiat gab es zwischen dem obersten Chef und dem Arbeiter in der Fabrik oder draussen in der Welt eine Kaskade von zehn Vorgesetzten. Heute sind es in beiden Unternehmen noch halb so viele.

Die kurzen Wege bekommen die Mitarbeiter zu spüren. «Marchionne ist überall», sagt Schweiz-Pressesprecher Moreno Volpi. «Die Leute wissen, dass er jederzeit in irgendeiner Fabrik oder Abteilung auftauchen kann.» Marchionnes Dauerpräsenz hat den Vorteil, dass kein wichtiger Entscheid ohne sein Zutun gefällt wird und dass der oberste Chef direkt erfährt, was Kunden und Mitarbeiter stört. Die Kehrseite: Er muss sich oft auch um Details kümmern. Bei Alusuisse-Lonza wussten die Mitarbeiter beispielsweise, dass sich ihr Chef für Autos interessiert. Als ein neuer Minibus bestellt werden musste, wurde der Entscheid an Marchionne delegiert. Selbst in dieser Frage hatte der CEO eine klare Meinung: Gekauft wurde ein Modell von Mercedes.

Herr Marchionne, wir sehen uns regelmässig seit …

… zehn Jahren?

… ungefähr alle zwei, drei Jahre zum Interview. Sie scheinen immer noch der Gleiche. Treiben Sie Sport?

Sport, ja, und ich schlafe nicht, ich habe das Schlafen aufgegeben. Das ist das Beste, was Sie tun können, um nicht älter zu werden.

Die Arbeit hält Sie frisch?

Ich stehe für meine Arbeit auf, ich liebe sie. Ja, ich liebe sie.

Ein Krampfer, dem man das Krampfen nie ansieht. Das war Marchionne bereits als Konzernchef von Alusuisse. Eigentlich hätte Dominique Damon CEO der Industriefirma werden sollen, doch die Französin wurde im Sommer 1995 entlassen. Mit ihrer elitär anmutenden Art habe sie nicht zur bodenständigen Kultur gepasst, befanden ihre Vorgesetzten. Kaum erhielt Marchionne Ende 1996 den Spitzenjob, verschärfte er das Tempo. «Ich war ja ein Marathonläufer, aber mit Marchionne konnte ich nicht mithalten», blickt Ex-Präsident Hans Jucker auf diese Periode zu-rück. «Er hielt das Rad ständig am Rotieren, ein extrem fleissiger CEO. Oft sah ich spät in der Nacht das Licht in seinem Büro in der Zentrale brennen. Schon damals rauchte er wie ein Schlot und schlief wenig. Aber irgendwie muss er eine körperliche Konstitution haben, die ihn wahnsinnig belastbar macht.»

Auch sein langjähriger Mitarbeiter Alessandro Baldi spricht vom überdurchschnittlichen Einsatz seines Vorgesetzten. «Er verlangt viel von den Leuten. Aber am meisten verlangt er von sich selbst. Bei vielen Topmanagern heisst es ja, sie würden nur vier Stunden schlafen. Bei ihm trifft das wahrscheinlich tatsächlich zu.» Es ist dieses Engagement, das ihn zum Vorbild für die jungen Leute bei Fiat macht. Unter dem früheren Management hatten die Nachwuchsmanager oft das Gefühl, ihr Effort mache sich nicht bezahlt. Heute denken sie anders. Das ist der dritte und vermutlich entscheidende Punkt des marchionneschen Führungsprinzips: Er schafft es, der Firma in kurzer Zeit eine neue Kultur zu geben, einen frischen Spirit einzuhauchen. Der Zahlenmensch, der Universitätsabschlüsse in Recht und Finanzwesen hat und Philosophie studierte, liebt es, über Kultur zu dozieren. Auch auf unkonventionelle Art und Weise. «An Weihnachten 2004 schickte er mir eine Post- karte», erzählte Markenchef Luca De Meo diesen Frühling am Rande des Genfer Automobilsalons. «Darauf hatte Sergio geschrieben: «IBM sagte mal, Kultur sei Teil des Spiels. Nun, Kultur IST das Spiel.»»

Herr Marchionne, was hat sich grundlegend bei Fiat geändert?

Es ist eine neue Generation am Werk. Junge Leute, denen ich grosse Freiheiten lasse und die Risiken eingehen. Ich bin ihr Coach, der sie manchmal bremsen muss, weil sie zu schnell vorwärts stürmen. Aber ihre Kreativität ist phänomenal. Als sie mir den orangefarbigen Punto zeigten, mit dem sie das neue Modell lancieren wollten, sagte ich: «Was soll das, der ist orange?» Sie antworteten: «Grossartige Farbe, die Käufer werden sie lieben.» Was sollte ich sagen, ich habe keine Ahnung, was ankommt und was nicht.

Sie bevorzugen junge Manager?

Der Mix ist entscheidend. Der Chefeinkäufer bei Fiat-Auto ist 58, der jüngste in der Geschäftsleitung 38. Ein alter Manager wie ich ist schon ein paar Mal mit dem Kopf gegen die Wand gestossen. Also können wir einem Jungen sagen: Hey, mach das nicht, du wirst scheitern. Will er trotzdem das Risiko eingehen, dann muss man ihn machen lassen und sagen: «Okay, du kannst losrennen, aber sei vorsichtig.»

Was müssen Ihre Manager zwingend erfüllen?

Sich an den Resultaten messen lassen.

Sie meinen, sie sollen nicht das Blaue vom Himmel versprechen?

Das und gleichzeitig sollen sie Resultate liefern. Und zwar keine Peanuts. Ein halber Zentimeter pro Tag löst kein Problem in der Geschäftswelt.

Marchionne, so lautet ein erstes Fazit, hat die Fiat-Gruppe, mit 170 000 Mitarbeitern und einem Umsatz von 47 Milliarden Euro das industrielle Rückgrat Italiens, wieder flott gemacht. Das erste Etappenziel ist erreicht. In den nächsten Jahren geht es für Fiat darum, den Anschluss zu den führenden asiatischen Konkurrenten zu schaffen. Dazu braucht es die richtigen Modelle und eine schlagkräftige Organisation. Erstes ist vorhanden: Dank neuer Modelle wie dem Grande Punto und dem Croma stieg Fiats Marktanteil in Europa im ersten Quartal von sechs auf sieben Prozent. 2007 folgt der Fiat 500, ein Remake des legendären Topolino, mit dem Fiat den Erfolg des Mini kopieren will. Bis aber die Italiener ihre Autos so effizient wie die Marktleaderin Toyota bauen und vertreiben werden, bleibt noch ein weiter Weg.

Doch Marchionne hat die Basis für einen nachhaltigen Erfolg gelegt. Eigenverantwortung, Ehrlichkeit, Fairness, Mut zum Risiko: Das sind die Eckpfeiler seines Führungsstils. Geht an die Grenzen, testet euer Limit, probiert Neues aus: Das ist seine Art zu motivieren. Was man erreichen kann, wenn man Grenzen verschiebt, merkte Marchionne bei Alusuisse. Die Schweizer hatten Mitte der Neunzigerjahre eine kanadische Verpackungsfirma erworben und Marchionne, der dort Finanzchef war, den gleichen Job im vergrösserten Konzern offeriert. So landete der Jungspund im «Wasserschloss», wie der Alusuisse-Hauptsitz an der Zürcher Seepromenade intern genannt wurde. Dort brüteten Kaderleute seit Urzeiten hinter verschlossenen Türen über Marketingplänen und Konzernabschlüssen. Jahrein, jahraus ging das so, bis zu jenem Tag Ende 1994, als die alte Welt auf einen Schlag unterging. «Plötzlich waren alle Türen offen, und vom obereren Stock erklang der helle Gesang von Maria Callas», sagt Alessandro Baldi, der damals bei Alusuisse in der Revision arbeitete. «Das vergesse ich nie mehr.» Als Baldi die Stimme der Operndiva vernahm, wusste er sofort, woher die Klänge kamen. Es gab nur einen im Haus, der sich erlauben konnte, die Welt aus den Fugen zu heben. «

Marchionne am Autosalon in Genf: Ein Krampfer, dem man das Krampfen nie ansieht.

Sergio Marchionne, 54

Der Italo-Kanadier war Finanzchef der kanadischen Verpackungsfirma Lawson Mardon, die Alusuisse-Lonza 1994 kaufte. 1996 wurde er deren CEO. 1999 landet Alusuisse bei der kanadischen Alcan, Lonza wurde verselbstständigt und Marchionne deren Chef. 2002 holte ihn der frühere Alusuisse-Grossaktionär August von Finck zum Wareninspektionskonzern SGS. Kaum waren die Genfer saniert, wurde Marchionne am 1. Juni 2004 Fiat-Chef. Er ist Präsident bei SGS und Ver-waltungsrat von Serono und des deutschen Baukonzerns Hochtief. Marchionne hat zwei Kinder und lebt in Walchwil ZG.

Legendäre Spritztouren

Als er 1994 in die Schweiz dislozierte, war Sergio Marchionne 42 Jahre alt und fuhr nicht wie andere Finanzleute Mercedes oder BMW, sondern einen schwarzen Lancia Integrale – einen sportlichen Kleinwagen für Rallye-Rennen. Im Gleichschritt mit der Karriere wurden die Autos teurer und schneller. Er verkaufte den Lancia einem Alusuisse-Mitarbeiter und sattelte auf Ferrari und Maserati um. Legendär sind seine Spritztouren in Deutschland, wo er nach den Meetings im Alusuisse-Werk Singen oft einen Ferrari mietete und mit 200 über die Autobahn raste. In Genf überraschte der Mann der schnellen Autos die Belegschaft, als er ökologisch korrekt im Smart vorfuhr. Im Stadtverkehr mache ein Bolide keinen Sinn, begründete Marchionne die Wahl.


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